Schwäbische Zeitung (Biberach)
Neue Medizin für den neuen Menschen
Im digitalen Gesundheitswesen sehen Experten enorme Chancen, aber auch Risiken
FRIEDRICHSHAFEN - Die Medizin der Zukunft soll den Menschen nicht nur gesünder machen, sondern auch klüger, schöner und vor allem sehr alt. 200 Jahre halten manche Experten nicht für eine Utopie, genauso wenig wie die Ausrottung von Krankheiten wie Krebs. Dafür arbeiten Mediziner, Biologen, Chemiker, Physiker, Robotikexperten und nicht zuletzt Informatiker zusammen, sie tauschen Diagnosen, Laborwerte, Studien, Befunde und vieles mehr aus. Damit die Werte über Algorithmen abgeglichen und analysiert werden für die perfekte und einzigartige Behandlung eines jeden Menschen. Kein Thema wird im Gesundheitsbereich so aufgeladen diskutiert, nur wenige Bereiche werden unser Leben derart verändern: E-Health. Was soviel wie die Digitalisierung des Gesundheitswesens bedeutet.
Sensible Daten
„Die entscheidende Rolle spielen dabei Daten“, sagte Andreas Knoch, Wirtschaftsredakteur der „Schwäbischen Zeitung“und Moderator zu diesem Komplex beim Bodensee Business Forum (BBF) in Friedrichshafen. Um gleich hinzuzufügen: „Und zwar sehr sensible Daten.“Nämlich jene ganz persönlichen Informationen aus der Krankengeschichte eines Bürgers. Chancen und Risiken riesiger Datenmengen sind ein zentrales Thema. Zunächst stellt sich aber eine andere Frage: „Ist unser Gesundheitssystem nicht ein analoges Wesen, man denke nur an die Beziehung Arzt und Patient?“, so der Moderator.
Manfred Lucha, Minister für Soziales und Integration, schränkt ein: „Digitalisierung heißt nicht unpersönlich“, die emphatische Beziehung zwischen Patient und Arzt bleibe bestehen. Joachim Schulz, Vorstandsvorsitzender des Medizintechnikherstellers Aesculap aus Tuttlingen, bezweifelt, ob es diese Nähe in jedem Fall gibt: „Wie unpersönlich ist es denn, wenn die Wartezimmer voll sind und der behandelnde Arzt unter Stress steht?“Auch er sieht durch die Digitalisierung, die Chance zur Qualitätsverbesserung, weg von der üblichen „08/15-Behandlung von der Stange“.
Die allermeisten Menschen wären allerdings froh, überhaupt einen Arzt zu Gesicht zu bekommen, wie Peter Sölkner, Geschäftsführer der Vetter PharmaFertigung aus Ravensburg, erklärt: „Auf der Welt leben 7,5 Milliarden Menschen“, ein Großteil davon müsse völlig ohne grundlegende medizinische Versorgung auskommen. Big Data und Roboterchirurgie sind für sie weit weg. Die Euphorie für E-Health, wie sie in Silicon Valley von Datenriesen wie Google, Facebook oder Amazon befeuert wird, kommt auch hierzulande nur allmählich an. Anfänge aber sind gemacht. Etwa mit dem Landesprojekt DocDirekt, eine telemedizinische Fernberatung und -behandlung durch den Arzt über Telefon, Videotelefonie und Chat. „Wir haben eine erstaunliche Annahme in den Modellregionen Stuttgart und Tuttlingen“, versichert Lucha. Die Folge: „Wir werden das Projekt auf das ganze Land ausbreiten.“
Herzstück der Digitalisierung soll die elektronische Patientenakte sein, in der alle Gesundheitsdaten gebündelt werden. Die Pläne rufen Sorgen um die Datensicherheit hervor, bei Patienten wie bei Ärzten. Anderen geht die Entwicklung zu langsam. Der Bundestagsabgeordnete Lothar Riebsamen (CDU), Mitglied des Gesundheitsausschusses, plädiert für einen Mittelweg: „Der Datenschutz wird in Deutschland nicht zu hoch gehängt“, sagt Riebsamen. „Wir müssen aber auch weiterdenken“, fordert er, also die Entwicklung kontrollieren, jedoch nicht blockieren. Dazu zählt er ein Kernanliegen: „Über den Zugriff zur Patientenakte darf nur der Patient bestimmen – da müssen wir in Deutschland umdenken.“
Gesellschaftliche Sprengkraft
Über eine andere „Denke“könnte Vetter-Geschäftsführer Sölkner viel berichten. Sölkner hat in den USA studiert, er lebt dort noch immer, pendelt zwischen den Kontinenten. Er weiß, wie die Menschen in Kalifornien, in Silicon Valley ticken. Er kennt die guten und die weniger guten Seiten, die dieser Geist bisweilen mit sich bringt. „In den USA haben inzwischen die meisten Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung“, sagt er im Gespräch, etwa durch Obamacare. Qualität und Umfang der Behandlung bestimme aber der Geldbeutel. Schon heute gibt es Medikamente etwa bei der Krebsbehandlung, deren Kosten im hohen sechsstelligen Bereich liegen – für eine einmalige, wenn auch erfolgversprechende Behandlung.
Die Ausgaben für die neue Medizin werden weiter steigen, in der Höhe nach oben offen. Die sich dann – auch bei uns – wer leisten kann? „In diesem Thema steckt eine enorme Sprengkraft“, sagt Sölkner. Hinter der nicht weniger als die Frage nach einer „gesellschaftlichen Spaltung“stehe.
Es gibt aber auch eine andere Seite: „In Deutschland möchte man am besten noch jede App reglementieren“, stellt der Vetter-Experte fest. „Es fehlt manchmal der Pioniergeist, den die Amerikaner leben, die sagen: ,Das machen wir jetzt’“. Immerhin, beim BBF in Friedrichhafen war eine Aufbruchstimmung spürbar.