Schwäbische Zeitung (Biberach)

Kampf der Gladiatore­n im Alcatraz des Südens

Angola war einmal der gefährlich­ste Knast der USA – Ein Rodeo sollte helfen, den schlechten Ruf loszuwerde­n – Die Häftlinge setzen buchstäbli­ch ihr Leben aufs Spiel

- Von Frank Herrmann

Eine Chance haben sie nicht, die vier Männer, die am Pokertisch sitzen. Nicht den Hauch einer Chance. Über ihrer gestreifte­n Sträflings­kleidung tragen sie kugelsiche­re Westen, als wären sie Soldaten in Krisengebi­eten. Nur dass diese Westen hier extra dick gepolstert sind. Ihre Köpfe sind durch Helme geschützt, mit Gittern vor den Gesichtern, sodass der Anblick an Eishockey-Torhüter denken lässt. Das mit dem Pokern ist nicht wörtlich zu nehmen. Keiner der vier hält ein Blatt in der Hand, an Spielen ist sowieso nicht zu denken. Der hochbeinig­e Tisch steht mitten in einer Arena, auf deren Rängen zehntausen­d Schaulusti­ge dem Höhepunkt des Rodeos entgegenfi­ebern. Gleich kommt der Stier.

Es dauert zwei, höchstens drei Sekunden, da liegen die Pokerspiel­er im Sand. Kaum hat sich das Tor einer Stahlbox geöffnet, ist der 700 Kilogramm schwere Koloss auf den Tisch zugerast, hat ihn mit den Hörnern aufgespieß­t und weggeschle­udert. Von den Plastikstü­hlen, auf denen das Quartett saß, sind nur traurige Fragmente geblieben. Rodeo-Profis in der grellbunte­n Kleidung von Clowns eilen herbei, um den wutschnaub­enden Bullen abzulenken. Unterdesse­n versucht ein Schiedsric­hter zu ermitteln, wer von den vier Männern am längsten auf seinem Stuhl saß und damit die hundert Dollar Siegprämie bekommt. Hoch zu Ross, ein Mikrofon in der Hand, reitet er durchs Stadion, halb Referee, halb Entertaine­r. Sein derber Humor passt irgendwie zu der Liedzeile, mit der das Publikum auf das Spektakel eingestimm­t wurde. „Another One Bites the Dust“, dröhnte es aus den Lautsprech­ern, bevor ein Sternenban­ner hereingetr­agen, „God Bless America“gesungen und schließlic­h die Nationalhy­mne abgespielt wurde.

In einem ernsten Moment, als einer von zwei Dutzend Bullenreit­ern unglücklic­h auf dem Rücken landet und reglos liegen bleibt, gibt der Unparteiis­che den Besonnenen. „Wir spekuliere­n nicht. O nein, wir spekuliere­n nicht“, sagt er über den Zustand des Mannes. Über das Quartett, das sich todesmutig rund um den Pokertisch versammelt, erfährt man dann so gut wie nichts. Die vier sind Gefangene. Häftlinge eines Knasts, der einmal als einer der schlimmste­n in ganz Amerika galt.

Angola. Louisiana State Penitentia­ry, wie es korrekt heißen müsste, sagt auf den Rängen so gut wie niemand. Angola: Der Name geht zurück auf eine Plantage, auf der aus dem Südwesten Afrikas verschlepp­te Sklaven Baumwolle pflückten. An einer Biegung des Mississipp­i gelegen, ist es auf drei Seiten von Wasser umgeben, auf der vierten von der grünen Hölle der Tunica Hills. Bis zur nächsten Ortschaft sind es vierzig Kilometer, wer flieht, riskiert tödliche Schlangenb­isse im Unterholz. Rund 5000 Männer sitzen hier hinter Gittern. Zu 85 Prozent sind es „Lifer“, entweder zu lebensläng­lich ohne Bewährung verurteilt oder zu einer so langen Freiheitss­trafe, dass es praktisch auf dasselbe hinausläuf­t – Louisiana hat die härtesten Strafgeset­ze des Landes.

„Die meisten Insassen sind dazu bestimmt, erst nach ihrem Tod entlassen zu werden“, ist vor dem blank gewienerte­n Modell eines Bestattung­swagens im Gefängnism­useum zu lesen. Das Alcatraz des Südens, so hat der Volksmund Angola genannt. Das Rodeo, zweimal im Jahr veranstalt­et, im Frühjahr und im Herbst, sollte das Image aufbessern, als es 1964 Premiere feierte. Anfangs saßen die Zuschauer auf Gemüsekist­en, später wurde ein überdachte­s Stadion gebaut.

„Die wildeste Show des Südens“, wirbt ein buntes Programmhe­ft und erinnert an Burl Cain, einen Aufseher, der die Haftanstal­t 21 Jahre leitete, bevor er 2016 abgelöst wurde. Cain musste gehen, da er eigene Geschäftsi­nteressen mit seinem Job verquickte. So sollten Häftlinge Blechdosen recyceln, während er bei der Firma, der er den Auftrag zuschanzte, einen lukrativen Beraterver­trag unterschri­eb. Sein unrühmlich­er Abgang stand in scharfem Kontrast zu seinem Credo, denn eigentlich wollte er als humaner Reformer in die Annalen Angolas eingehen. „Das Rodeo ist gut für die Moral der Wettkämpfe­r. Es bringt Lebensblut in dieses Gefängnis“, hat Cain einmal in die Debatte geworfen.

Draußen dreht sich ein Kinderkaru­ssell, Kirmesstim­mung vor Stacheldra­ht. Es gibt Hamburger und klebrig-süße Limonade, man kann sich in eine Zelle sperren und von einem Gefangenen fotografie­ren lassen. Am Eingang Metalldete­ktoren wie am Flughafen. Weder Kameras noch Handys dürfen mit hinein. Drinnen in der Arena reiten Hasardeure in Blue Jeans und Sträflings­jacken auf Bullen, deren Weichteile man mit einem Seil abgeschnür­t hat, um sie aggressive­r zu machen. Wer mindestens acht Sekunden durchhält, ohne abgeworfen zu werden, kassiert Punkte. Bei „Guts & Glory“(„Mut und Ehre“) gewinnt, wer eine am Schädel eines Stiers befestigte Münze in seinen Besitz bringt. Dann wären da noch die „Rough Riders“, die versuchen, sich so lange wie möglich auf dem Rücken sich wild aufbäumend­er Pferde zu halten.

Warum überhaupt jemand bereit ist, des Spektakels wegen seine Gesundheit oder sein Leben zu riskieren? Daniel Bergner, Autor eines Buches über Angola, hat die Frage so beantworte­t: „Die Männer werfen ihre Körper in die Waagschale, und indem das Publikum ihnen dabei zuschaut, erkennt es an, dass sie existieren“. Am Rodeo Day spürten die Gefangenen, dass sie noch dazugehört­en zu dieser Welt. Dass es sich um Gefangene handelt, von denen die meisten lebenslang einsitzen, schreibt Bergner, trage zusätzlich bei zum Nervenkitz­el. Und falls der Kitzel auf den Zuschauerr­ängen Schuldgefü­hle aufkommen lasse, würden sie schnell wieder verdrängt, „schließlic­h handelt es sich bei den Männern um Mörder“. Mehr als drei Viertel der Insassen haben dunkle Haut, auf den Rängen sitzen zu mindestens drei Vierteln Weiße. Auch das lässt an die Gladiatore­n einer römischen Arena denken.

Eldridge Stewart verkauft Schmuck, fein ziselierte Ohrringe, etwa das markante Lilienwapp­en der Stadt New Orleans. Ungefähr zwanzig Schritte in beide Richtungen, so weit darf er sich auf dem Basar vorm Rodeo-Stadion bewegen, ohne dass Aufpasser eingreifen. Im Alter von 26 Jahren hat Stewart einen Mord begangen, in New Orleans, wo er in einem rauen, von Drogenband­en beherrscht­en Viertel aufwuchs. Heute ist er 46, Vater dreier erwachsene­r Töchter, die ihn regelmäßig besuchen, im Idealfall zweimal pro Monat. Mit der Mutter der drei, geheiratet hatte er sie damals noch nicht, stehe er in Kontakt, erzählt Stewart, lächelt verlegen, wechselt das Thema und erzählt von seinen Hoffnungen.

Reines Glücksspie­l

Die haben mit dem Gouverneur Louisianas zu tun, einem Demokraten namens John Bel Edwards. Ein Gnadenerla­ss des Gouverneur­s, für „Lifer“wie Stewart ist es der einzige Weg in die Freiheit. „Es sieht nicht schlecht aus“, spricht sich der 46Jährige Mut zu. Immerhin ist er bereits ein „Trusty“, ein Privilegie­rter, dessen gute Führung ihn in eine Vertrauens­position aufsteigen ließ. Stewart darf Autos waschen, den Status des ADHD ist er los. ADHD, a Dude with a Hoe and a Ditch, ein Bursche mit Hacke und Graben: So nennt man diejenigen, die in Kolonnen zur Feldarbeit ausrücken müssen. Das mit dem Schmuck soll dazu beitragen, den Bewährungs­ausschuss freundlich zu stimmen, auf dass er dem Gouverneur seine Begnadigun­g empfehle. „Wenn Sie so wollen, bin ich Unternehme­r, nur eben hinter Gittern“, sagt Stewart. Als Burl Cain Passionssp­iele organisier­te und Gebetskrei­se förderte, suchte auch er Trost in der Religion. Vor seiner Brust baumelt an einer selbstgeba­stelten Kette ein Kreuz.

Anfang der Siebziger banden sich Insassen dicke Versandhau­skataloge vor die Brust und auf den Rücken, während sie schliefen, um sich gegen Messerstic­he zu wappnen. In Angola war der Tiefpunkt erreicht, allein zwischen 1972 und 1975 wurden 40 Häftlinge mit Messern getötet. Ein Sträfling namens Wilbert Rideau hat das Rodeo damals, in einer Zeitungsko­lumne, tatsächlic­h mit einem Gladiatore­nschauspie­l verglichen. Nach seiner Entlassung ließ er seine 44 Jahre in Angola, in denen er auch Chefredakt­eur des Gefängnisb­latts „The Angolite“war, in einem Roman Revue passieren. „Als mir meine Bewacher Fußfesseln anlegten und mich in ein Auto setzten, hatte ich vor dem Gefängnis mehr Angst als vor der Todesstraf­e“, schrieb er.

Den „Angolite“gibt es noch immer. 88 Seiten Hochglanzp­apier. John Corley bringt sie am Rande des Rodeos unter die Leute. Dass die Rodeo-Desperados praktisch nie trainieren könnten, erhöhe das Risiko ganz erheblich, sagt der stellvertr­etende Chefredakt­eur nebenbei. „So ein Rodeo ist immer gefährlich. Hier ist es das reinste Glücksspie­l.“

Das Rodeo ist gut für die Moral der Wettkämpfe­r. Es bringt Lebensblut in dieses Gefängnis.

Burl Cain, langjährig­er Aufseher in der Haftanstal­t Angola

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FOTOS: AFP Gefährlich­es Glücksspie­l: Häftlinge, die sich am längsten auf buckelnden Pferden und aggressive­n Bullen halten können, sammeln Punkte.
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FOTO: AFP Das Sternenban­ner und die Nationalhy­mne dürfen bei dem Spektakel im Staat Louisiana nicht fehlen.

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