Schwäbische Zeitung (Biberach)
Kampf dem Gekrakel
Viele Schüler können nicht mehr leserlich schreiben – Institut will Kindern zur schönen und flüssigen Schrift verhelfen
NÜRNBERG (epd) - 8.45 Uhr an einem Gymnasium in der fränkischen Hauptstadt, die 8c hat Deutschunterricht. 28 Schülerinnen und Schüler sollen die Tafelanschrift in ihr Heft übertragen. Der Lehrer stöhnt innerlich, blickt genervt auf die Uhr. „Wieso dauert das so lange, schreibt schneller und bitte leserlich!“, weist er die Jugendlichen an. „Das ist aber so anstrengend“, klagt der 13 Jahre alte Sebastian. Als die Uhr zur nächsten Stunde klingelt, ist nur die Hälfte der Klasse mit dem Hefteintrag fertig geworden.
Auch im digitalen Zeitalter bleibt die Handschrift ein wichtiges Bildungsthema. Das hat eine Umfrage im Auftrag des privaten Instituts für Schreibmotorik in Heroldsberg mit Unterstützung des Bundeselternrates und des Deutschen Lehrerverbands bereits 2015 bestätigt. Befragt wurden mehr als 2000 Lehrerinnen und Lehrer in ganz Deutschland. Knapp 80 Prozent urteilten, die Handschrift ihrer Schüler habe sich im Schnitt verschlechtert. Institutsleiterin Marianela Diaz-Meyer weiß aus Lehrerumfragen, dass mittlerweile mehr als 75 Prozent aller Jungen und Mädchen an weiterführenden Schulen nicht in der Lage sind, länger als 30 Minuten am Stück mit der Hand zu schreiben. Lesbarkeit, Schreibtempo und Ausdauer hätten dramatisch abgenommen.
Für die Entwicklung macht DiazMeyer mehrere Gründe verantwortlich: Der Handschrift kommt ihrer Ansicht nach in der Grundschule eine geringe Bedeutung zu: „Die Kinder verkrampfen die Hände, sie haben eine schlechte Stifthaltung und die Sitzhaltung stimmt auch oft nicht.“Hinzu komme die Digitalisierung: „Die Lebenswelt der Kinder mit Handy und Laptop hat sich sehr geändert. Schon Grundschüler tippen Nachrichten in ihr Handy.“
Und noch ein Aspekt spielt laut der Institutsleiterin eine entscheidende Rolle: Das Fach „Didaktik/ Schreiben“sei als Pflichtfach für angehende Lehrer abgeschafft worden. Diaz-Meyer fordert deshalb, dass die Lehre der Handschrift wieder verpflichtend eingeführt und auch in den Schullehrplänen fest verankert wird.
Stefanie Wisch ist Lehrerin an der Gebrüder-Grimm-Grundschule in Nürnberg. „Immer mehr Kinder haben Schwierigkeiten, eine gut lesbare und flüssige Handschrift zu erlernen“, ist auch ihre Erfahrung. Früher habe man auf die Schönschreibschrift sehr viel Wert gelegt, die Schrift wurde benotet. Der aktuelle Lehrplan sehe dies nicht mehr vor.
Mit welchen Problemen Grundschüler kämpfen, hat Günter Steinel hautnah miterlebt. Der Enkel des 76Jährigen hat die Gebrüder-GrimmSchule besucht. Bei der Hausaufgabenbetreuung habe er ihn immer ermahnt, „doch bitte ordentlicher zu schreiben“. Ohne Erfolg. Der Junge gewöhnte sich die Druckschrift an, nach einer verbundenen Schreibschrift konnte man in seinen Heften lange suchen.
Sollte sich am Grundschullehrplan nichts ändern, sieht auch Eike Juhre, Fachlehrer für Deutsch am Hans-Sachs-Gymnasium in Nürnberg, schwarz. Er hat beobachtet, dass flüssiges und leserliches Schreiben mit jedem neuen Jahrgang abnimmt. „Die Schrift ist teilweise unleserlich, es ist bei vielen eine Katastrophe“, beklagt Juhre. „Da sie die Schreibschrift oft gar nicht mehr gelernt haben, schreiben viele Schüler der höheren Klassen ganze Aufsätze in Druckschrift.“Mit fatalen Folgen: Die Schüler geraten massiv unter Zeitdruck, die Aufsätze werden immer kürzer, die Qualität leidet.
Aber auch die Lehrer kommen unter Zeitdruck. Juhre weiß aus eigener Erfahrung, aber auch aus dem Kollegium, dass viele Lehrer mittlerweile anstelle von Tafelanschriften auf Arbeitsblätter zurückgreifen, in die nur noch Begriffe eingetragen werden müssen. Tafelanschriften in die Hefte übertragen zu lassen, sei „heute gar nicht mehr machbar“.
Die mangelnde Kompetenz bei der Handschrift hat weitreichende Folgen. Wie das Institut für Schreibmotorik urteilt, würden dadurch Bildungschancen beeinträchtigt. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse legen einen engen Zusammenhang zwischen kognitiver und motorischer Entwicklung von Kindern nahe. Wer mit der Hand schreibt, aktiviert unterschiedliche Areale des Gehirns und schult die Feinmotorik. Viele Menschen können sich Fakten besser merken, wenn sie die Informationen mit der Hand aufgeschrieben haben. Eine US-Studie der Universität Princeton ergab, dass Schüler, die mit der Hand schrieben, das Gelernte später besser abrufen und in eigenen Worten wiedergeben konnten als eine tippende Vergleichsgruppe.
Der Verband der Bildungswirtschaft und das Schreibmotorik-Institut in Heroldsberg haben darum die „Aktion Handschreiben 2020“ins Leben gerufen. Sie soll ein flächendeckendes Programm zur Förderung des Handschreibens in Kitas und Schulen etablieren.
Der 76-jährige Steinel ist noch heute stolz auf seine Schrift. „Meine Schrift ist meine ganz persönliche Visitenkarte.“„Und die“, sagt er, „kann kein Tablet ersetzen.“