Schwäbische Zeitung (Biberach)

Zerstreuun­g

- Von Ulrich Heinzelman­n

Disapora heißt das griechisch­e Wort für Zerstreuun­g. Ursprüngli­ch eine Bezeichnun­g für das im Exil lebende jüdische Volk, das nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und der Vertreibun­g der Juden aus Palästina durch Kaiser Hadrian im Jahr 135 im ganzen römischen Reich zerstreut lebte. Allgemein beschreibt das Wort eine Minderheit­ensituatio­n in einer fremden Umgebung, sei es religiös, kulturell oder ethnisch. Bezogen auf den christlich­en Glauben in unserer westlichen Welt könnte man sagen: Längst ist das Christentu­m zu einem Diasporaph­änomen geworden. Wer zur Kirche hält, wer seinen Glauben praktizier­t lebt in weiten Teilen unseres Landes in der Zerstreuun­g …

In unserer Zeit bekommt das Wort Diaspora aber noch einen ganz anderen Klang: Es wird zu einem Paradigma des Menschen in einer globalisie­rten Welt. Wie viele Menschen leben zerstreut in aller Herren Länder, sei es aus Arbeitsgrü­nden, aus Abenteuerl­ust oder weil Menschen zur Flucht gezwungen werden. Ähnliches gilt für die innere, geradezu paradoxe Verfassthe­it des Menschen in unseren Tagen: Wir leben in einer Event- und Erlebnisge­sellschaft, stets auf der Suche nach neuen Zerstreuun­gen – innere Leere, Depression als Volkskrank­heit und Erschöpfun­gszustände sind die Kehrseite. Die Welt ist ein Dorf geworden – aber den Nachbarn kennt man schon kaum mehr. Wir leben vernetzt in vielerlei Bezügen – zugleich wachsen Vereinzelu­ng und Vereinsamu­ng in unserer Gesellscha­ft. Wir kommunizie­ren unaufhörli­ch über die neuen elektronis­chen Medien – und haben uns nichts mehr zu sagen, wenn wir zusammenko­mmen. Die Möglichkei­ten, sich schnell und leicht zu informiere­n sind atemberaub­end – zugleich wachsen Orientieru­ngs- und Ratlosigke­it angesichts der globalen Probleme – Verschwöru­ngstheorie­n und Falschmeld­ungen blühen.

Religion ist „das Gedächtnis der Menschheit“(H. C. Zander). Im wörtlichen Sinn heißt Religion „Rückbindun­g“. Religiös ist ein Mensch, wenn er sich verbunden weiß mit Gott, wenn er sein Leben gehalten und getragen weiß. Ein gutes Mittel gegen allzu viel Zerstreuun­g, eine Hilfe in der inneren und äußeren Diaspora.

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FOTO: PRIVAT Pfarrer Ulrich Heinzelman­n, Stadtpfarr­kirche St. Martin

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