Schwäbische Zeitung (Biberach)
Neuentdeckung einer Institution
Wieland-Stiftung veranstaltet literarischen Salon in Biberach
BIBERACH - Ein „literarischer Salon“war vom 18. bis etwa 20. Jahrhundert ein zumeist privater gesellschaftlicher Treffpunkt für Diskussionen, Lesungen oder musikalische Veranstaltungen. Jetzt hat die WielandStiftung in Biberach diese Tradtion aufleben lassen.
Früher betätigten sich vor allem wohlhabende und gebildete Frauen als Gastgeberinnen; man nannte sie „Salonnière“. Eine der ersten dieses Genres war Sophie von La Roche, eine Schriftstellerin, die in der Zeit der Aufklärung im Stil der Empfindsamkeit schrieb. In ihrem „Literarischen Salon“in Ehrenbreitstein verkehrten zwischen 1771 und 1780 viele bedeutende Literaten, auch Johann Wolfgang von Goethe.
Jetzt hatte Kerstin Bönsch zur „Premiere“einer neuen Veranstaltungsidee fünf Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft, Kommunalpolitik in die Vereinsräume des Dramatischen Vereins im Komödienhaus geladen, die ihre Lieblingsbücher vorstellten und daraus lasen. Es eröffnete Jugendkunstschulleiterin Susanne Maier mit Texten von Jovan Nikolic, einem in Deutschland lebenden Roma-Schriftsteller. Dieser schreibt mit biografischem Hintergrund über Dazugehörigkeit und Ausgrenzung, über Vergänglichkeit, über Schönheit des Lebens. Susanne Maier las eine Reihe von Textstellen aus verschiedenen Erzählungen. Nikolic’ Texte zeichnen sich durch eindringliche Milieuschilderungen aus, erzählerisch spannend und kurzweilig.
Bürgermeister wählt ein politisches Werk
Mario Glaser, Bürgermeister von Schemmerhofen, las aus „Das Treibhaus“, einem 1953 entstandenen Roman von Wolfgang Koeppen. Mit dem Treibhaus ist die damalige Bundeshauptstadt Bonn gemeint. Die Hauptfigur ist Felix Keetenheuve, während der Zeit des Dritten Reiches Exilant in England, er machte dort Rundfunksendungen Richtung Deutschland. Nach 1945 wird er Bundestagsabgeordneter für die SPD. Seine Frau Elke war Alkoholikerin, hatte sich umgebracht. Im Parlament
ist er isoliert, den Fraktionszwang lehnt er ab. Er sieht die alten Eliten aus der Weimarer Republik und der Nazizeit wieder nach der Macht greifen. Der Schlusssatz des Romans: „Der Abgeordnete war völlig unnütz. Der Sprung von der Brücke machte ihn frei.“
Jutta Heinz, Germanistin der Universität Freiburg, las dann aus dem Roman „Kassandra“der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf. Die 1983 gleichzeitig in der DDR und der Bundesrepublik erschienene Erzählung kommentiert Ereignisse des Trojanischen Kriegs aus der Perspektive der trojanischen Königstochter und Seherin Kassandra. Sie konnte die Zukunft sehen, jedoch schenkte niemand ihren Vorhersagen Glauben. Der Text ist ein innerer
Monolog der Kassandra. Sie war von den Griechen gefangen genommen worden, weiß, dass sie sterben muss, denkt zurück an ihr Leben.
Der griechischen Sagengestalt folgte ein eher nüchterner Text, den Martin Bücher, Vorstandsvorsitzender der Kreissparkasse, las: „Führung ist Dienstleistung und kein Privileg“Von Bodo Janssen. Als dieser ins elterliche Unternehmen einstieg, lehnte ihn die Belegschaft ab. Janssen begann umzudenken, entwickelte völlig neue Formen der Unternehmensführung. Einer seiner Glaubenssätze: „Wenn jemand als Führungskraft etwas verändern möchte, ist er gut damit beraten, zunächst und ausschließlich bei sich selbst anzufangen.“
Den Reigen interessanter Literatur
beschloss Timo Heiler, Leiter des Hermann-Hesse-Museums in Calw. Hesse war einer der erfolgreichsten Schriftsteller aller Zeiten, weltweit wurden mehr als 30 Millionen seiner Werke verkauft. Heiler las aus der Erzählung „Stunden im Garten“, die in Montagnola in Hesses Residenz in der Schweiz entstanden war, und sprach einige Gedichte, darunter „Stufen“mit Hesses berühmtestem Zitat: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
Das war eine rundherum gelungene Renaissance einer über mehr als zwei Jahrhunderte bewährten und beliebten Einrichtung des Bildungsbürgertums. Und man kann Kerstin Bönsch nur ermuntern, in geeignetem Abstand die nächste Veranstaltung solcherart folgen zu lassen.