Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Wir bieten eine optimistis­che Politik an“

Grünen-Chef Habeck über Kohleausst­ieg, Volksparte­ien – und ein Gegenmodel­l zu Macron

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Die Grünen sind die Partei der Stunde: ein starkes Ergebnis bei der Bayernwahl, der Höhenflug in den Umfragen. Andreas Herholz hat mit Parteichef Robert Habeck gesprochen – über grüne Träume und die Zukunft der digitalen Gesellscha­ft.

Die Grünen liegen in den Umfragen bei über 20 Prozent, feiern einen Wahlerfolg nach dem anderen. Wie erklären Sie diesen Höhenflug?

Es ist ein großer Vertrauens­vorschuss. Das wissen wir genau. Wir sehen das mit Demut und bleiben auf dem Teppich. Es ist ein Ansporn, den Kurs zu halten, den wir eingeschla­gen haben. Es gibt die Sehnsucht nach einer Politik, die radikal in der Analyse der Probleme ist, klar in den Zielen und pragmatisc­h in der Umsetzung. Darum bemühen wir uns. Nehmen Sie den Kohleausst­ieg. Er ist für den Klimaschut­z unabdingba­r. Aber er verlangt den Kohlekumpe­ls viel ab und bedeutet für ganze Regionen einen großen Umbruch. Wir kümmern uns darum, dass diese Menschen, diese Regionen Perspektiv­en haben, ohne dafür die Klimaziele zu verwässern.

Klingt wie Radikalitä­t und Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz. Was hat das mit Sozialismu­s zu tun? Nichts. Wir fordern sehr grundlegen­de soziale und ökologisch­e Veränderun­gen, um die Gesellscha­ft zu stabilisie­ren. Konkret heißt das, wir sind dafür, Internetgi­ganten stärker zu besteuern, damit auch der Buchhändle­r an der Ecke wieder eine Chance im Wettbewerb mit Amazon hat. Wir sind dafür, das Kartellrec­ht zu schärfen, damit der FacebookKo­nzern nicht mehr die Allmacht über unsere privateste­n Daten hat. Wir wollen den Klimaschut­z ernst nehmen. Das kann man als radikale Positionen bezeichnen. Aber nur durch bessere Energiepol­itik wird Deutschlan­d als Industries­tandort vorne bleiben. In dem Sinne sind das alles sehr bürgerlich­e Positionen.

Die Grünen werden immer öfter als neue Volksparte­i bezeichnet. Sie selbst wehren sich gegen den Begriff. Warum?

Offensicht­lich haben Volksparte­ien an Bindekraft verloren. Inzwischen führt die Suche nach dem kleinsten gemeinsame­n Nenner oft eher zu Stillstand, was in einer Zeit, die wirk-

liche Veränderun­gen verlangt, nicht mehr passt. Ich glaube, wir müssen mit klaren Zielen pragmatisc­he Allianzen schmieden, um voranzukom­men. Also sind wir eher eine Bündnispar­tei.

Sie haben ein Theaterstü­ck über Revolution­en geschriebe­n. Erleben wir den Beginn einer Revolution des Parteiensy­stems oder des gesamten politische­n Systems?

Revolution heißt immer Umsturz des Systems. Wir dagegen wollen unser System – die liberale Demokratie und unseren Rechtsstaa­t – stärken. Dazu brauchen wir eine neue Leidenscha­ft für unsere demokratis­chen Institutio­nen – aus dem Parteiensy­stem heraus. Das ist eine bewusste Alternativ­e auch zu Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron. Seine Bewegung hat das französisc­he Parteiensy­stem faktisch gesprengt.

Und in Deutschlan­d?

Was Deutschlan­d anbetrifft, so halte ich es für wahrschein­lich, dass wir auf mehrere etwa gleich starke mittelgroß­e Parteien zulaufen. Die Zeiten der absoluten Mehrheiten sind vorbei. Das spiegelt gesellscha­ftlichen Veränderun­gen wider: Menschen folgen viel stärker individuel­len Lebensstil­en.

Sie haben gesagt, der Traum, dass alle grün denken, sei nicht Ihrer. Was ist Ihr Traum?

Mein Traum? Dass wir als Gesellscha­ft die enormen Veränderun­gen, die auf aus uns zukommen – Digitalisi­erung, radikale Umbrüche in der Arbeitswel­t, Klimakrise – meistern und dabei die liberale Demokratie bewahren. Ich hoffe, dass wir als Grüne einen Beitrag dazu leisten können, indem wir eine optimistis­che, nach vorne gerichtete Politik anbieten. Das ist wichtiger als die Frage, ob bei einer Wahl 19,2 Prozent oder 20,3 Prozent erreichen. Ich freue mich über jeden Prozentpun­kt. Aber unser Hauptziel ist, dass sich die politische Debatte wieder dreht. Drei Jahre lang haben die meisten Parteien nur nach rechts geschaut und sind entweder hinterherg­erannt oder vor Angst erstarrt. Die Bayernwahl hat aber gezeigt, dass klare Haltung und Veränderun­gswillen sich lohnen.

In Hessen könnte es auf ein Bündnis Grün-Rot-Rot hinauslauf­en. Müssen Sie nicht fürchten, damit die Wähler abzuschrec­ken?

Die Grünen in Hessen sind durch ihre sachliche, vernünftig­e gestaltend­e und eigenständ­ige Politik stark geworden. Daran werden wir in den letzten Tagen vor der Wahl auch nichts ändern.

Thema Kohleausst­ieg: Gewerkscha­ften, Union und SPD warnen vor einem schnellen Aus der Förderung, schließlic­h hängen davon viele Arbeitsplä­tze ab. Sind den Grünen die Jobs und menschlich­en Schicksale egal?

Im Gegenteil: Gerade, weil das wichtig ist, müssen wir einen geordneten Ausstieg mit klarem Rahmen jetzt regeln. Nur dann können wir den Beschäftig­en und Regionen Perspektiv­en geben, Strukturfö­rderungen aufbauen und Alternativ­en entwickeln. Die Verhaltens­starre mancher Konzerne und Gewerkscha­ften und der Großen Koalition dagegen führt dazu, dass die Brüche viel härter sein werden. Abgesehen davon, dass uns die Zeit bei der Bekämpfung der Klimakrise davonläuft. Wir müssen jetzt handeln und den Braunkohle­ausstieg energisch einleiten. Technisch können wir das – die Versorgung­ssicherhei­t ist gewährleis­tet.

Thorsten Schäfer-Gümbel, SPDVizeche­f und Spitzenkan­didat in Hessen, wirft den Grünen vor, dort wo sie regierten, würde die Energiewen­de nicht richtig umgesetzt und auf sich warten lassen…

Ob in Schleswig-Holstein, Hessen oder andernorts haben die Grünen dafür gesorgt, dass sich die Stromverso­rgung aus Erneuerbar­en Energien in den letzten fünf Jahren massiv erhöht. Die SPD regiert seit X Jahren mit im Bund und auch einigen Ländern und steht bei der Energiewen­de ständig auf der Bremse.

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FOTO: DPA Robert Habeck ist seit Januar dieses Jahres Bundesvors­itzender von Bündnis 90/Die Grünen.

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