Schwäbische Zeitung (Biberach)
Wenn der Lärm allgegenwärtig ist
Was es für die Menschen in Ingoldingen bedeutet, dass der Verkehr so zugenommen hat
INGOLDINGEN - Die Zeiten, in denen Irmgard Schwarzkopf gerne auf ihrem Balkon gesessen hat, sind lange vorbei. Seit 40 Jahren wohnt sie mit ihrem Mann Wolfgang in Ingoldingen direkt an der Landesstraße 284, die einmal quer durch den Ort führt. Früher, sagt sie, sei der Verkehr kaum wahrnehmbar gewesen. Heute rauschen jeden Tag knapp 10 000 Autos an ihrem Haus vorbei. Und während es Jahr für Jahr immer mehr Autos werden, nimmt die Lebensqualität der Familie Schwarzkopf und ihrer Nachbarn immer weiter ab.
Nachmittags um drei Uhr. Es ist ein lauer Spätsommertag und die Sonne lockt auf den Balkon. Eigentlich. Doch Irmgard Schwarzkopf und ihr Mann Wolfgang empfangen ihren Besuch zuerst im Wohnzimmer. Schließlich will man sich unterhalten und das ist im Freien schwierig. Alle Fenster sind zu, die Terrassentür geschlossen. Früher werkelte Irmgard Schwarzkopf in ihrer Freizeit gerne im Garten, doch seit der Verkehr so massiv zugenommen hat, hält sie sich nur noch wenig in ihrem Garten auf. „Ich kann mich an den Lärm nicht gewöhnen, er stresst mich und macht mir Kopfweh“, sagt sie. Wenn sie in den Garten wollen, setzen sie und ihr Mann sich vor die Gartenlaube im hinteren Teil. Die fängt den Lärm von der Straße wenigstens ein bisschen ab.
Verkehr hat stark zugenommen
„Wir hätten uns damals, als wir hergezogen sind, niemals vorstellen können, dass diese Straße eines Tages so stark befahren sein wird“, sagt Wolfgang Schwarzkopf. Als sein Vater das Haus baute, das genau an der Ecke Gartenstraße/Steinhauser Straße steht, war es das erste Haus in diesem Bereich. „Das Baugebiet oberhalb war noch nicht einmal ausgewiesen“, erinnert er sich, „und der Verkehr war so gering, dass man ihn eigentlich gar nicht wahrgenommen hat“. Heute ist das ganz anders. Das Rauschen, Holpern und Rumpeln ist ständig präsent.
Die Ortsdurchfahrt hat auf dieser Höhe tiefe Fahrrillen, die vom Balkon aus betrachtet wie große Wellen aussehen. Fährt ein leerer oder nur leicht beladener Lastwagen vorbei, knallt und rumpelt es gewaltig. „Am schlimmsten sind die Lastwagen mit Anhänger. Und die Laster, die Autos transportieren“, meint Wolfgang Schwarzkopf und deutet auf zwei Fahrzeuge, die soeben unten vorbeifahren. Seit der neue Blitzer an diesem Ende der Ortsdurchfahrt steht, gibt es einige Fahrzeuge, die vor dem Haus der Schwarzkopfs abbremsen um dann jedoch wenige Meter später wieder aufs Gas zu treten. Seit einigen Wochen steht auch eigentlich das Schild, das darauf hinweist, dass auf diesem Teil der Landesstraße nur 30 km/h erlaubt sind. Doch das Straßenschild ist momentan noch nach außen gedreht und somit für die Autofahrer noch nicht sichtbar. Auch der Blitzer ist, da sind sich die Anwohner sicher, noch nicht aktiviert. „Wir haben schon mehrfach Autos beobachtet, die eindeutig schneller als die noch erlaubten 50 km/h gefahren sind, und es ist nichts passiert“, berichtet Irmgard Schwarzkopf.
Was sind die Gründe?
Warum der Verkehr in den vergangenen fünf Jahren so drastisch zugenommen hat, darüber haben das Ehepaar und ihre Nachbarn sich schon oft Gedanken gemacht. „Zum einen hat es wahrscheinlich damit zu tun, dass immer mehr Menschen nach Navi fahren“, vermutet Margret Porath, die schräg gegenüber wohnt. Ein Biberacher Kennzeichen hätte vielleicht noch die Hälfte aller Fahrzeuge. „Und auffällig ist auch, dass, seit es die Lkw-Maut gibt, viel mehr polnische und tschechische Lastwagen durch Ingoldingen fahren“, fügt sie noch hinzu.
Mit ihrem Enkel im Kinderwagen läuft sie nur noch ungern auf dem Gehweg in Richtung Ortsmitte. „Wenn ein Schwerlaster so nah an einem vorbeifährt, haut einen der Fahrtwind fast um“, erklärt die Seniorin. Und vor allem in der Ortsmitte, an der Abzweigung nach Muttensweiler, werde die Straße so eng, dass es manche Lastwagenfahrer mit der Fahrbahnbegrenzung nicht mehr so genau nähmen. „Das ist dann lebensgefährlich, dort mit einem Kind oder einem Rollator zu laufen“, findet die Ingoldingerin. Und darum nähmen auch immer mehr Menschen aus dem Ort lieber das Auto, um in Ingoldingen von A nach B zu kommen, anstatt zu Fuß zu gehen oder das Fahrrad zu nehmen. Denn einfach so die Straße zu überqueren, sei zu den Stoßzeiten kaum noch möglich. Zwar gibt es seit kurzem vor dem Rathaus eine Ampel. „Aber es hat ja nicht jeder Lust, immer bis ganz nach vorne zu laufen, nur um auf die andere Seite zu gelangen“, ist sich auch Irmgard Schwarzkopf sicher.
Die Angst: Die Ortsmitte stirbt
Für die Nachbarn ist klar: Die Ortsmitte wird aussterben, wenn nicht bald etwas geschieht. „Wir ziehen hier wahrscheinlich nicht mehr weg – aber wer von den Jungen will denn hier noch wohnen, bei dem Lärm und Stress?“, fragt Margret Porath. Mit jedem weiteren Auto, das durch den Ort rausche, sinke die Lebensqualität immer weiter. Die einzige Lösung aus ihrer Sicht: eine Umgehungsstraße. Pläne hierfür gibt es schon seit vielen Jahren. Seitens der Landespolitik gab es im Wahlkampf auch immer wieder vage Versprechen, doch in den Landesverkehrswegeplan schaffte es die Umgehungsstraße bisher nicht. Zuletzt evaluierte das Verkehrsministerium die Situation in Ingoldingen 2012 - und damals fuhren noch deutlich weniger Autos durch den Ort. Der damals von SPD und Grünen erstellte Maßnahmenplan gilt noch bis 2023.
„Wir haben jedoch erwirkt, dass dieser Plan neu evaluiert wird“, erklärt der Biberacher CDU-Landtagsabgeordnete Thomas Dörflinger. „Es wird also voraussichtlich 2019 eine neue Überprüfung stattfinden und das bedeutet eine reelle Chance für Ingoldingen.“Allerdings habe der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann vorab klar gesagt, dass er einen Aus- und Neubau von Straßen „nur in ganz begründeten Fällen“geben werde. Nur, was bedeutet das konkret? Darauf hat der Landtagsabgeordnete keine Antwort. Er will sich jedoch dafür einsetzen, dass es zumindest ein direktes Gespräch geben wird zwischen einem Vertreter der Gemeinde Ingoldingen und einem hochrangigen Politiker aus dem Verkehrsministerium. „Es kann nicht sein, dass wir für die Menschen in den Städten alles Mögliche tun in puncto Lärm und Luftreinhaltung und die Menschen auf dem Land das Nachsehen haben“, beurteilt er die Situation.