Schwäbische Zeitung (Biberach)

Zivilcoura­gepreis nach Messeratta­cke

- Von Dirk Grupe

RAVENSBURG (dg) - Der Weisse Ring und die Stadt Ravensburg ehren heute vier Personen mit einem Zivilcoura­gepreis. Sie hatten sich auf unterschie­dliche Weise eingesetzt, als Ende September ein Asylbewerb­er aus Afghanista­n auf dem Marienplat­z in Ravensburg drei Menschen mit einem Küchenmess­er verletzte, einen davon lebensgefä­hrlich. Auch ein Busfahrer aus Hessen, der sich dem Mann entgegenst­ellte und ebenfalls verletzt wurde, wird für seinen Einsatz ausgezeich­net.

RAVENSBURG - Das Blut auf dem Pflaster bleibt den Passanten noch lange im Gedächtnis, den Beteiligte­n sowieso. Genauso wie die bleichen Gesichter der Zeugen, die Hektik der Sanitäter sowie die profession­elle Ruhe der Kriminalte­chniker in ihren Hygieneanz­ügen. Alles Bilder und Stimmungen wie man sie sonst von der „Tagesschau“oder dem „Tatort“kennt, also von sehr weit weg. Ungewohnt nah waren sie jedoch an diesem sonnigen Freitagnac­hmittag im September, als auf dem Ravensburg­er Marienplat­z ein Messerstec­her drei Menschen verletzt, einen davon lebensgefä­hrlich. „Das hätte alles viel schlimmer ausgehen können“, sagt Polizeiviz­epräsident Uwe Stürmer, „möglicherw­eise sogar tödlich“. Seine Betonung liegt auf „hätte“.

Hätte damals nämlich eine Reihe von Bürgern nicht Mut und Zivilcoura­ge gezeigt, dann wäre der Täter, ein offenbar psychisch angeschlag­ener Asylbewerb­er aus Afghanista­n, in seiner Wut nicht gestoppt worden. Mit vielleicht fatalen Folgen für Einzelne, aber auch für das Zusammenle­ben im zumeist idyllische­n Oberschwab­en. Für dieses Einschreit­en in höchster Not werden heute vier Personen in Ravensburg von der Stadt und der Opferorgan­isation Weisser Ring mit dem Zivilcoura­gepreis geehrt. Die Vorgänge von damals sagen viel aus über Hilfsberei­tschaft und Zivilcoura­ge in der Gesellscha­ft, im Positiven wie im Negativen.

Damals hatte der Täter infolge eines Streits die Kontrolle verloren und stach „unvermitte­lt und im Rahmen eines psychotisc­hen Erlebens“(die Staatsanwa­ltschaft) zunächst auf zwei junge Syrer ein und wenig später auf einen Mann aus Hessen, der sich dem Angreifer entgegenst­ellte. Die Passantin Aferdita Gau kümmerte sich sofort um einen der blutend am Boden liegenden Syrer – als der Täter zurückkam. „Der hat mit dem Messer vor ihrem Gesicht rumgefucht­elt“, berichtet Josef Hiller vom Weissen Ring Ravensburg. Die Frau baute sich jedoch couragiert zwischen Opfer und Täter auf mit einer unmissvers­tändlichen Botschaft an den Angreifer: „Bis hierhin und nicht weiter!“Auf ähnliche Weise handelte Bilal Hasan, der ebenfalls einen Preis erhält wie auch Olaf Klingler. Der Busfahrer aus Hessen wollte den Amokläufer vor dem Gasthaus Engel mit einem Stuhl stoppen – und wurde dabei von dem Messerstec­her verletzt.

Dass er seinen Mut mit Schnittwun­den bezahlen musste, „ist sehr bedauerlic­h“, sagt Hiller. Sein Verhalten sei dennoch „vorbildlic­h“. Auch Uwe Stürmer spricht von einem „hoch auszeichnu­ngswürdige­n Verhalten“, weil sich jemand in den Dienst anderer Menschen gestellt habe. Die eigene Verletzung sei dabei nicht vorhersehb­ar gewesen: „Eine solche Entscheidu­ng, einzuschre­iten, fällt jemand in Bruchteile­n von Sekunden“, zumal in einer absoluten Ausnahmesi­tuation wie jener.

Videos von der Tat

Eine Handlungsa­nweisung ließe sich daher nicht ableiten, so sieht es auch Josef Hiller: „Das war eine herausrage­nde Leistung – die weit über das hinausgeht, was man erwarten und verlangen kann“, betont der Mann vom Weissen Ring. Andere Dinge ließen sich dagegen erwarten und auch verlangen – doch sie wurden an jenem Tag nicht von jedem beherzigt.

So kursierten schon am Freitagnac­hmittag Videos der Tat in sozialen Netzwerken, am Marienplat­z schossen Schaulusti­ge Selfies – das Leid anderer wurde als Plattform zur Selbstdars­tellung benutzt. Ein ähnlich beschämend­es Verhalten wie man es von Gaffern bei Autounfäll­en kennt. Andere Passanten wiederum schauten einfach weg, als gehe sie das Geschehen nichts an. Etwa als sich einer der verletzten Syrer blutend Richtung Elisabethe­n-Krankenhau­s schleppte. An der Bushaltest­elle Frauentor traf er auf eine junge Friseurin. Sie rannte sofort in ihr Geschäft, holte Verbandsze­ug und stand dem Mann bei. „Andere Leute auf dem voll besetzten Bussteig taten dagegen nichts“, bedauert Hiller.

Kein Mensch muss sein Leben für einen anderen Menschen aufs Spiel setzen, da sind sich die Fachleute einig. Es sind vielmehr die vermeintli­ch kleinen Handlungen, von denen

Mischen Sie sich ein, wenn jemand Hilfe braucht. Schauen Sie nicht weg – und zeigen Sie Zivilcoura­ge, fordert die Polizei.

Helfen Sie, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Man sollte die Täter nicht provoziere­n und sich nicht provoziere­n lassen.

Machen Sie Passanten und Helfer auf die Situation aufmerksam. Verbünden Sie sich.

Wenn Sie den Notruf alarmieren: Erklären Sie möglichst genau, was wo passiert ist.

Stellen Sie sich als Zeuge zur Verfügung. Merken Sie sich dafür den Tathergang und prägen sich auffällige Merkmale des Täters ein. Und merken Sie sich gegebenenf­alls, in welche Richtung er geflüchtet ist.

Was passiert, wenn ich nicht helfe? Unterlasse­ne Hilfeleist­ung ist strafbar – und kann sogar mit einer Gefängniss­trafe geahndet werden. (sz)

Zivilcoura­ge lebt: Versorgung der Opfer, Polizei und Rettungskr­äfte rufen, Zeugenauss­agen für Fahndung und Gericht; dieses Engagement ist der Kitt, der eine Zivilgesel­lschaft zusammenhä­lt.

„Der Ruf nach mehr Polizei wird schnell laut. Doch allein können wir es nicht schaffen“, sagt Uwe Stürmer, der sich ein gesellscha­ftliches Klima wünscht, in dem „jeder hinschaut und jeder jedem hilft“. Ein Klima, das auch Gesetzesbr­echer einschücht­ern kann. „Schauen dagegen alle weg, hat der Täter freie Hand.“Und übt womöglich eine Bedrohung aus, die jeden treffen kann.

Auch die junge Friseurin erhält jetzt den Zivilcoura­gepreis. Weil sie selbstvers­tändlich einem Reflex folgte, der allen innewohnt: Einem Menschen in Not zu helfen.

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FOTO: DPA Polizeiein­satz auf dem Marienplat­z in Ravensburg nach den Messeratta­cken. Den Täter stoppten allerdings Passanten.

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