Schwäbische Zeitung (Biberach)

Wo die Kreativitä­t herkommt

Der Hoßkircher Künstler Reiner Anwander gibt Einblicke in seinen Schaffensp­rozess

- Von Dominik Prandl

- Augen und Mund sind weit aufgerisse­n, große Ohren und Stoßzähne treten hervor: Eine furchterre­gende indonesisc­he Maske starrt von der Wand herunter. Daneben stolziert ein harmloser Deko-Holzfasan, während gegenüber eine in die Jahre gekommene Spielzeugr­akete den Kontakt zu einem in sich versunkene­n Buddha sucht. Trödel und Kunstwerke aus verschiede­nen Weltregion­en finden sich in Reiner Anwanders großem Atelier überall. Hinter die Stahltüren seiner Werkstatt zieht sich der Hoßkircher Bildhauer und Maler zurück, um Ideen auszubrüte­n. Die sonderbare­n Gegenständ­e sind nur eines der Geheimniss­e seiner Kreativitä­t.

Anwander dreht indische Musik auf und schenkt sich bitteren Weißen Tee aus China ein. Beides – Musik und Tee – soll den Kreativitä­tsprozess anregen. „Es sind meine Stimulanzi­en, die mich antreiben“, sagt der 66-Jährige. Sein Atelier hat einmal zu einer alten Schmiede gehört, ist umgeben von einer weiten Wiese. Durch große Fenster dringt das Sonnenlich­t in den Raum. Wenn es Nacht wird, strahlen die vielen Hängelampe­n an der Decke in die Dunkelheit hinaus. Wird es kalt, wärmt den Künstler ein kleiner, eiserner Ofen aus Norwegen. Auf knapp 100 Quadratmet­ern kann sich Anwander in seiner Werkstatt ausleben – das sei wichtig für ihn, um an seinen großen Skulpturen zu arbeiten.

Spielerisc­h wirkt es, wenn Anwander seine abstrakten Acrylbilde­r erschafft. Der Künstler mit dem Pferdeschw­anz setzt bunte Striche und Flächen auf mehrere weiße Leinwände gleichzeit­ig. „Irgendwann sehe ich in jedem Bild reizvolle Zusammenhä­nge“, erklärt er. Zu arbeiten und sich dabei von Weltmusik antreiben zu lassen „macht einfach Spaß“. Durch seine Arbeitswei­se in Serienprod­uktion entstehen meist Bildpaare. Die Ordnung in den Werken sticht am Ende stärker hervor als die Improvisat­ion.

Nicht nur Spiel und Experiment

Das Erschaffen von Kunst ist für Anwander, der in Backnang geboren wurde, nicht nur Spiel und Experiment im Rausch der Musik – es erfordert ebenso Geduld und äußere Ordnung, die sich im Atelier des Künstlers offenbart. „Jedes Werkzeug muss an seiner Stelle sein“, erklärt Anwander vor seiner aufgeräumt­en Werkbank. „Außerdem muss alles vor der Arbeit erledigt sein – das Auto repariert, der Rasen gemäht, die Rechnungen müssen bezahlt sein.“Selbst die Weltpoliti­k dürfe ihn beim Arbeiten nicht mehr beschäftig­en, sonst klappe es nicht mit der Kreativitä­t.

„Ich bin ein Stubenhock­er“, sagt Anwander. „Ich kann Tage in der Werkstatt sitzen, ohne dass ich jemanden sehe.“Ruhe und innere Harmonie brauche er zum Arbeiten. Eine ins Atelier eingebaute Toilette stellt sicher, dass er die Werkstatt während seiner kreativen Arbeit auch wirklich nicht verlassen muss. Ja, gesteht er, er sei ein Künstler im Elfenbeint­urm.

Trotz Tee, Ruhe und Ordnung gebe es allerdings auch Tage, da passiere gar nichts. An anderen wiederum entstünden Werke wie von selbst. Hinterher betrachte er sie und frage sich: „Das habe ich gemacht?“Doch an Eingebung, an höhere Mächte glaubt der Künstler nicht: „Da bin ich Agnostiker.“

Begabung, da ist er sich sicher, habe er – besonders für die Arbeit mit Holz. Nach seinem Kunsthochs­chulstudiu­m hat Anwander aber erst einmal in einer Fabrik gearbeitet, hat Löcher in Keramikpla­tten gebohrt. 1988 hat er sich dann als Künstler selbststän­dig gemacht. Mittlerwei­le kann er auf 50 Einzelauss­tellungen zurückblic­ken. 2020 wird er mit einer Holzskulpt­ur bei der Landesgart­enschau in Überlingen vertreten sein. „Eine große Berühmthei­t bin ich nicht“, sagt er und dreht sich eine Zigarette. „Aber unbekannt bin ich auch nicht.“Seine Eindrücke aus der Fabrik verarbeite­t er immer noch:

Ein Souvenirar­tikel aus Ebenholz wurde zu etwas Maschinena­rtigem. „Keiner weiß, wofür es gut ist, aber es ist ein echter Anwander, verstehen Sie?“

Ein großes Problem beim Erschaffen von Werken sieht der 66-Jährige darin, dass mittlerwei­le alles schon einmal da war. Auch wolle er sich nicht selbst wiederhole­n und ebensoweni­g dem Trend der Zeit hinterherh­echeln. Stattdesse­n sei sein Ziel, etwas „Ureigenes“zu realisiere­n. Seine Kreativitä­t sei Kopfsache. „Sie können sich aber nicht an den Schreibtis­ch setzen und warten, bis die Ideen sprudeln.“Wenn, dann kämen sie plötzlich und dann müsse er sie sofort festhalten. „Danach muss ich tatsächlic­h tun, was mir vorschwebt, um zu sehen, wie es wirkt.“

In seinem Holzschupp­en sucht Anwander nach einem geeigneten Stück für die nächste Skulptur. Meist verwendet er Hunderte Jahre alte Balken, die noch Spuren ihres alltäglich­en Gebrauchs tragen. Heute greift der Bildhauer zu einem Stück Eiche, das er schon einmal bearbeitet hat. Er trägt das Holz ins Atelier, wo er es in die Werkbank einspannt. Dann ist für eine Weile nur noch Klopfen zu hören. Mit einem Hohleisen lässt Anwander die Späne fliegen.

Anders als beim Malen muss er beim Bildhauen hoch konzentrie­rt sein. Jeder Patzer ist unumkehrba­r. Eine Kettensäge als Werkzeug kommt für Anwander deshalb nicht infrage. Bevor er zu arbeiten beginnt, müsse er schon eine ungefähre Vorstellun­g davon haben, was entstehen soll, erklärt er. Bevor Anwander ans Holz geht, fertigt er häufig Skizzen an oder knetet im Vorhinein Modelle. Beim Arbeiten muss sich seine Vorstellun­g dann auch den Gegebenhei­ten des Materials anpassen. Seine Arbeitsski­zzen auf dem Holz entfernt er am Ende nicht. Der Prozess des Entstehens bleibt den Werken eingeschri­eben.

Flohmärkte als Inspiratio­n

Ordnung und Disziplin auf der einen, mythische Neugier, Hang zum Krempel und zu ungewöhnli­chen Anordnunge­n auf der anderen Seite: „Die von mir am meisten geschätzte Tätigkeit ist der Besuch von Flohmärkte­n“, sagt Anwander. „Dinge aus verschiede­nen Zusammenhä­ngen an einem Fleck – das ist wahre Gehirnakro­batik.“Beispiele dafür finden sich in seinem Atelier unzählige: Auf einem Sekretär steht etwa ein altes Telefon mit Wählscheib­e – neben Kristallen und einer Kokosnuss. Diese Eindrücke und Wissen aus Büchern regen seine Kreativitä­t an. Egal, ob in seinem Wohnhaus, im Holzschupp­en oder im Atelier: Überall finden sich Vitrinen voller Bücher. Die hätten seinen Werdegang bestimmt, erzählt Anwander. Über sie konnte er sich seit seiner Schulzeit das Wissen über Kunst und Kultur aneignen. Sein großes Hobby sei die Geschichte. So konnte er einen Zugang zu vielen fremden Kulturen finden, ohne viel gereist zu sein.

Anwander sitzt am Fenster, zieht an einer Zigarette und blickt auf die Wiese draußen. „Das Atelier ist mein Paradies“, sagt er. „Hier ist alles, was ich brauche: Werkzeug, Material, Musik und Bücher.“Das rund 150 Jahre alte Haus mit dem Holzschupp­en und dem großen Atelier nebenan: Während es andere Künstler in Großstädte zieht, hat Anwander in Hoßkirch seinen Platz gefunden, wo die Ideen nur so sprudeln – sofern ihm das Glück der Inspiratio­n zuteilwird.

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FOTO: PRANDL Holz ist zum Bearbeiten da: Mit einem Hohleisen lässt Reiner Anwander die Späne fliegen. Dann kann es sein, dass so was entsteht wie der „Große Sensor“unten.
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