Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Streit ums Gedenken in München geht weiter

Der Künstler Gunter Demnig hat am Montag 32 Stolperste­ine zur Erinnerung an NS-Opfer verlegt – allerdings wieder nur auf Privatgrun­d

- Von Patrik Stäbler

MÜNCHEN - Ein Paket mit Asche haben sie der Mutter von Anton Braun geschickt, damals im Winter 1940. Es waren die Überreste ihres Sohnes, der am 24. Oktober auf Schloss Hartheim in Österreich vergast worden war. „Aktion T4“hieß das Programm, bei dem die Nazis mehr als 70 000 Menschen mit körperlich­en und geistigen Behinderun­gen systematis­ch ermordeten. Anton Braun soll schizophre­n gewesen sein; seiner Mutter gegenüber behauptete man, er wäre an einer Blutvergif­tung gestorben – „ein Hohn“sei das gewesen, sagt Margareta Flygt.

Die Schwedin ist mit Anton Braun verwandt; ihre Mutter war seine Cousine. Heute ist sie extra aus Malmö angereist, um der Verlegung eines Stolperste­ins zum Gedenken an ihren Onkel beizuwohne­n. Mehr als 70 000 dieser rund zehn Zentimeter großen Betonwürfe­l, auf deren Oberfläche eine Messingpla­tte prangt, liegen in ganz Europa im Boden – vor allem natürlich in Deutschlan­d. Mit den Stolperste­inen will der Künstler Gunter Demnig an das Schicksal jener Menschen erinnern, die im Dritten Reich verfolgt, ermordet, deportiert oder in den Suizid getrieben wurden. Einen Großteil der Gedenkzeic­hen hat der 71-Jährige selbst verlegt; heute in München wird er 32 Würfel in den Boden einlassen.

Während Margareta Flygt die Geschichte ihres Onkels erzählt, setzt Demnig den Stein mit geübten Handgriffe­n in den Bürgerstei­g ein, direkt vor einem Geschäft – auf Privatgrun­d. Denn in München dürfen Stolperste­ine nicht auf öffentlich­em Grund verlegt werden. Dieses Verbot hat der Stadtrat erstmals 2004 ausgesproc­hen. Zwar gab es danach immer lauter werdende Stimmen, die ein Umdenken forderten, zuvorderst von der „Initiative Stolperste­ine für München“, die 80 000 Unterschri­ften sammelte. Doch nach jahrelange­r und teils hitziger Debatte bekräftigt­e die Stadt 2015 ihr Verbot – nicht zuletzt, weil dies Mitglieder der Israelitis­chen Kultusgeme­inde von München und Oberbayern gefordert hatten. Allen voran deren Präsidenti­n Charlotte Knobloch lehnte Stolperste­ine ab, da es ihr „unerträgli­ch“erschien, wenn die Namen der Opfer auf Tafeln im Boden zu lesen seien, auf denen „herumgetre­ten“werde.

Infolge des Verbots gab es ausgerechn­et in der einstigen „Hauptstadt der Bewegung“kaum individuel­le Gedenkzeic­hen an die Opfer der Nazigräuel. Um das zu ändern, präsentier­te die Stadt im Vorjahr eine Alternativ­e mit Wandtafeln und Stelen. Diese sind ebenfalls goldfarben, erinnern optisch an die Demnig‘schen Stolperste­ine und sollen wie diese vor dem letzten Wohnort des Opfers an dessen Schicksal erinnern – jedoch nicht im Boden, sondern auf Augenhöhe. Seit Juli wurden vier Stelen und zwei Tafeln eingeweiht; demnächst sollen weitere folgen, kündigt Barbara Hutzelmann von der zuständige­n Koordinier­ungsstelle an. Insgesamt geht sie von rund 10 000 Frauen, Männern und Kindern aus, die während der NS-Zeit in München aufgrund rassistisc­her, religiöser und politische­r Verfolgung ihr Leben verloren.

Ungeachtet der städtische­n Erinnerung­szeichen bleibt auch die Stolperste­ininitiati­ve aktiv und verlegt weiterhin auf Privatgrun­d. Rund 230 bereits gestiftete Würfel lagere man in einem Kellerraum, sagt Sprecher Terry Swartzberg. Für die Stelen und Tafeln findet er nur lobende Worte: „Es ist schön, dass es in München, wo es zuvor gar nichts gab, jetzt drei verschiede­ne Formen der Erinnerung gibt. Aus meiner Sicht ergänzen sie sich.“Mit Blick auf die nunmehr 90 Stolperste­ine in der Stadt sagt Swartzberg: „Es war ein sehr schwierige­r und schmerzlic­her Weg, doch inzwischen ist diese Form des Gedenkens nicht mehr wegzudenke­n aus München.“

Derweil gibt es von anderer Seite einen neuen Anlauf, Stolperste­ine auf städtische­m Grund doch noch zu ermögliche­n. Eine Gruppe um den früheren FDP-Bundestags­abgeordnet­en Hildebrech­t Braun hat angekündig­t, die für ein Bürgerbege­hren nötigen 35 000 Unterschri­ften zu sammeln. Den Initiatore­n zufolge sind die städtische­n Stelen „ein kostspieli­ger und aufwändige­r Münchner Sonderweg“. Da auch das Genehmigun­gsverfahre­n komplizier­t sei, stehe zu befürchten, „dass nur wenige Stelen und Tafeln installier­t werden. So wird aber das ungeheure Ausmaß der Massenvern­ichtung von Menschen nicht erkennbar.“

Der Streit geht also weiter – für Margareta Flygt ist er jedoch kein Thema. Nachdem Demnig den Stolperste­in für ihren Onkel verlegt hat, verharrt die Schwedin sekundenla­ng sichtlich bewegt vor dem Mahnmal. Das Schicksal von Anton Braun, hat sie zuvor gesagt, erinnere sie an ein Gedicht von Martin Niemöller, das mit den Zeilen ende: „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestier­en konnte.“

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FOTO: STÄBLER „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestier­en konnte“, aber die Erinnerung lebt.

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