Schwäbische Zeitung (Biberach)
Der Verdacht: Rettungsdienst wandelt sich zum Service
Die Zahl der Rettungseinsätze ist sprunghaft gestiegen, aber immer mehr Hilferufe sind unnötig
BIBERACH - Meldungen dieser Art tauchen zunehmend auf: Nach einem leichten Unfall wird ein leicht verletzter Mensch zur ambulanten Behandlung vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gefahren. Wer diesen Einsatz für übertrieben hält, liegt durchaus auf der Linie der Retter. Denn der Rettungsdienst im Kreis Biberach verzeichnet einen sprunghaften Anstieg der Einsätze – aber immer häufiger unnötig. Das kann gefährlich werden. Nicht, weil eine überflüssige Einsatzfahrt extrem teuer ist, sie bindet vor allem Kräfte und sorgt eventuell für eine Lücke, wo wirklich Hilfe benötigt wird. Der Verdacht: Der Rettungsdienst könnte als medizinischer Service missbraucht werden.
Die Wahrnehmung bestätigt Michael Mutschler, Geschäftsführer des DRK-Rettungsdiensts: „Ein steter Anstieg der Einsätze ist in den vergangenen Jahren feststellbar“, erklärt er auf Anfrage. Darüber sei man nicht glücklich, könne dem aber auch nicht wirklich entgegenwirken.
Gestiegene Anspruchshaltung
Der Grund ist einfach: Die Retter sind verpflichtet, auf einen Hilferuf mit einem Einsatz zu reagieren, auch wenn der erste Eindruck Zweifel an der Notwendigkeit weckt. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig, laute die Devise, die von dem ehernen Grundsatz getragen werde, Menschen in jedem Fall zu helfen. Mutschler: „Der Mensch, der bei uns anruft, der erwartet Hilfe, und er erlebt eine Situation ganz anders als ein Außenstehender.“Die Retter wollen helfen. Das Wort vom missbräuchlichen Anruf will er nicht in den Mund nehmen. Die Frage sei aber, ob die statistisch anwachsende Hilfsbedürftigkeit nicht Ausdruck einer schlicht gewachsenen Anspruchshaltung in der Bevölkerung ist.
Die Statistik des DRK-Kreisverbandes unterstützt den Verdacht ebenfalls. Zwischen 2012 und 2017 ist die Anzahl der Einsatzfahrten für Rettungswagen von 6199 auf 10 926 angestiegen – ein Anstieg um 76 Prozent. Im gleichen Zeitraum gab es eine gegenläufige Entwicklung: Die Zahl der Notarzteinsätze sackte im gleichen Zeitraum nach anfänglicher Stagnation zwischen 5100 und 5350 Fällen ab 2015 plötzlich um mehrere Hundert Fälle ab. Ein Zeichen dafür, dass Disponenten in der Einsatzleitstelle viele Notfallmeldungen nicht mehr als besonders dringlich einstufen? Diese These lässt Geschäftsführer Mutschler unkommentiert, stellt aber insgesamt doch fest: „Ich halte den Trend für bedenklich.“
Ist ein Rettungswagen zu einem Einsatz unterwegs, wird er in der Regel nicht zu einem anderen umdirigiert – fehlt also gegebenenfalls unnötigerweise an einem Ort, wo lebensrettende Hilfe benötigt wird. Technisch sei es natürlich möglich, während der Fahrt ein neues Ziel zu nennen, doch das geschehe nur, wenn der erste Einsatz eindeutig weniger dringlich als der zweite erscheint – eine knifflige Entscheidung.
Einer, der aus dem Alltag berichten kann, ist Edgar Quade, Leiter der Rettungsleitstelle und somit Chef von 17 Disponenten, die dort im Schichtdienst rund um die Uhr arbeiten. Immer mindestens zwei sitzen an den breiten Konsolen mit der Bildschirmfront. Bis dahin ist es ein langer Weg, weiß er zu berichten. Disponenten haben selbst Rettungsdiensterfahrung und durchlaufen dazu eine mehrjährige Ausbildung, ehe sie an die Schaltstelle zwischen Notfall und Rettungseinsatz dürfen. Er weiß auch: Es gibt unerwünschte Forderungen auf der Notrufleitung.
In der Zentrale gibt es permanent und zunehmend zu tun, besagt die Statistik. Die Rettungsleitung war 2017 bei insgesamt 30 371 Einsätzen aktiv. Auch dabei gibt es eine stete Steigerung, 2013 waren es noch