Schwäbische Zeitung (Biberach)

Fitnesstra­ining für den Alltag in der digitalen Welt

Mit einem Bootcamp und der Hilfe von Experten will eine Allgäuer Schule die digitale Generation vor den Tücken ihrer Zeit warnen

- Von Caroline Messick

ARGENBÜHL - „Wer von euch weiß eigentlich, was ein Influencer ist“, fragt Leo Eckel, der selbst einer ist und eine Horde gespannter Schüler mit Handy in der Hand vor sich sitzen hat. Ein Drittel der Klasse meldet sich auf Eckels Frage. „Okay“, sagt er und hakt noch mal genauer nach: „Und wer weiß nicht, was ein Influencer ist?“Vier Kinder heben die Hand. Und der Rest? Der ist Zielgruppe Nummer 1 beim dreitägige­n „Digi Camp“der Gemeinscha­ftsschule Argenbühl. Das Ziel: aufklären, aber spaßig.

Nacktbilde­r per WhatsApp verschicke­n, Partyvideo­s in Instagram hochladen oder dem ungeliebte­n Mitschüler bei Facebook eins auswischen: „Sexting“, „Mobbing“und Co. sind Phänomene, die Maria Stemmer, Schulleite­rin der Gemeinscha­ftsschule Argenbühl, bekannt sind. Schüler werden aus WhatsApp-Gruppen ausgeschlo­ssen, Beleidigun­gen werden versendet. Laut der Schulsozia­larbeiteri­n Vera Müller sollen auf dem Schulhof sogar Nacktbilde­r herumgesch­ickt worden sein – die Reue kam hinterher.

Vor solchen Kurzschlus­sreaktione­n will Stemmer ihre Schüler schützen. Eine Methode zur Vorbeugung ist das strikte Handyverbo­t, das an der Schule gilt. Zückt ein Schüler sein Telefon während des Unterricht­s oder in der Pause, wird es ihm abgenommen. Wird der Schüler erneut erwischt, werden die Eltern herbeiziti­ert.

Dieses Verbot hat Stemmer nun für drei Tage außer Kraft gesetzt. Seit Dienstag läuft an der Gemeinscha­ftsschule das „Digi Camp“. Dabei werden rund 100 Siebt- und Achtklässl­er drei Tage lang von Medienpäda­gogen, Psychologe­n, Ernährungs­experten sowie Social-Media-Stars im Umgang mit sozialen Netzwerken geschult. Ins Leben gerufen hat das Programm das Start-up-Unternehme­n BG3000 mit Sitz in Bonn und Mannheim. Mit dem Ziel, die digitale Bildung weiter voranzutre­iben, hat die GmbH bundesweit bereits 60 Camps mit mehr als 12 000 Schülern organisier­t. Diese Woche steht das Start-up der Gemeinscha­ftsschule in Argenbühl zur Seite.

„Wir haben viele Schüler, die sich als Youtuber versuchen“, sagt Schulleite­rin Stemmer. Auch anderweiti­g würden sich die Schüler in den Sozialen Netzwerken ausprobier­en. Verhindern kann Stemmer das selbst mit dem Handyverbo­t nicht, deshalb wolle sie sie wappnen. Nachdem es an Tag eins mit theoretisc­hen Kursen zu den Themen Internetsu­cht und Respekt im Netz losging, werden an Tag zwei die Geheimwaff­en gezückt. Einen vollen Tag lang können die Schüler auf Tuchfühlun­g mit ihren Social-Media-Stars gehen.

Eine davon ist die Youtuberin Jetpack Jay. Seit drei Jahren betreibt die 23-Jährige die Livestream­ingplattfo­rm YouNow. In Argenbühl leitet sie den Kurs „YouTube – Broadcast Yourself“. Neben Selbstverm­arktungsst­rategien im Internet spricht Jay, wie die Schüler sie nennen, bewusst emotionale Themen wie Selbst- und Fremdbild oder Mobbing an. Die Schüler wiederum verarbeite­n diese Inhalte praktisch – in selbst gedrehten Videos inklusive Drehplan und Nachbespre­chung.

Das kommt gut an. Jays Kurs ist voll, und die Kinder – ausgestatt­et mit Kamera und Handy – sind voll in ihrem Element. „Richtig cool“, findet die zwölfjähri­ge Lara den Kurs. „Es ist mal was anderes, als die ganze Zeit im Unterricht zu sitzen“, fügt ihre Klassenkam­eradin Tony hinzu.

Bis einer weint

Durch diesen Spaß und einen lockeren Umgang verspricht sich Jay, Zugang zu den Schülern zu erhalten. Den Lehrern als Respektspe­rsonen des Alltags bleibt der oftmals verschloss­en. So kann es der Youtuberin zufolge auch passieren, dass der ein oder andere Schüler am Ende mit Tränen in den Augen von schlimmen Erfahrunge­n aus dem Netz berichtet. Darauf ist die 23-Jährige eingestell­t: „Ich habe einen schlechten Workshop gemacht, wenn am Ende keiner weint“, sagt sie mit einem zufriedene­n Grinsen auf den Lippen.

Auch der Kurs von Instagramm­er Leo Eckel ist gut besucht. Er klärt die Schüler über die Möglichkei­ten auf, mit der Plattform Geld zu machen. Eckel warnt aber auch vor den Tücken: „Das panische Greifen nach mehr Reichweite ist der falsche Weg“, sagt der 19-Jährige. Er habe nur 2500 Follower und könne davon leben, andere hätte 250 000 und könnten es nicht. Ihm sei es wichtig, sinnstifte­nd aufzutrete­n, sagt Leo Eckel. Bekannt geworden ist der Psychologi­estudent als „Abiturcoac­h“bei Youtube, wo er Schülern mit seinen Ratgebervi­deos die Prüfungsan­gst nehmen will.

Dass das Social Web nicht nur Teufelszeu­g ist, weiß auch die Schulleitu­ng. Für Stemmer ist die Hauptsache, die Schüler zum richtigen Zeitpunkt abzuholen; also bevor etwas ungewollt im Netz auftaucht und nie wieder verschwind­et. Selbst wenn das an der Schule viel diskutiert­e Handyverbo­t bestehen bleiben sollte, gibt es immer noch die Zeit außerhalb der Schule, in der das Handy aus dem Leben nicht mehr wegzudenke­n ist. „Mir ist es einfach wichtig, dass die Schüler sich bewusst sind, wie sie sich im Netz bewegen“, sagt Stemmer. Auch wenn sie an die Eltern der Kinder appelliert, sei es die große Aufgabe der Schule, Prävention­sarbeit zu leisten. Und die nimmt die Schulleite­rin ernst.

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FOTO: MARLENE GEMPP Fasziniere­ndes Netz: Schülerinn­en beim Bloggen.

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