Schwäbische Zeitung (Biberach)
Gewalt gehörte in Heimen zum Alltag
Sozialminister Lucha stellt Bericht vor – 23,3 Millionen Euro als Hilfe für Betroffene
STUTTGART - Er wurde gedemütigt, geschlagen, missbraucht: Selbst Jahrzehnte später lässt Willy Dorn nicht los, was er als Kind in Heimen im Kreis Ravensburg erlebt hat. „Das Schlimmste für mich war, dass ich von einem Erzieher über Wochen nachts aus meinem Bett geholt und missbraucht wurde“, erinnert sich der 64-Jährige.
Dorn ist einer der rund 2400 Männer und Frauen, die sich in den vergangenen sechs Jahren bei der Anlaufund Beratungsstelle „Heimerziehung 1949-1975 Baden-Württemberg“gemeldet haben, um über ihr erlebtes Leid zu berichten. Bei einer Veranstaltung am Montag in Stuttgart hat Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) den Abschlussbericht vor 200 Betroffenen vorgestellt – und im Namen des Landes um Entschuldigung gebeten.
Vom Regen in die Traufe
Sein Zuhause in Suppingen im AlbDonau-Kreis bezeichnet Dorn als „verwahrlosten Haushalt“. Zehn Jahre lebte er zusammen mit seinen Eltern und 15 Geschwistern hier, als eines Tages im Jahr 1965 die Tür zu seinem Klassenzimmer aufging und er abgeholt wurde. Fremde Menschen brachten ihn und seine jüngste Schwester ins evangelische Waisenhaus Siloah in Eglofstal bei Wangen im Allgäu. Es sollte eine Verbesserung für die Kinder sein, raus aus dem „Sauhaufen“, wie die Fremden sein Zuhause nannten.
„Aber ich kam vom Regen in die Traufe“, erzählt Dorn. Den Schlafsaal teilte er mit elf anderen Jungs ohne jegliche Privatsphäre. „Das ist ein Grund, warum ich heute eher ein Einzelgänger bin“, sagt Dorn. „Ich wäre gern mal allein gewesen, das war unerträglich.“Gewalt war an der Tagesordnung. „Wir wurden aufbewahrt, kontrolliert, gemaßregelt, geschlagen, gedemütigt, sexuell missbraucht.“Das Gewaltregime übertrug sich auf die Kinder. Von zwei älteren Jungs wurde er im Badezimmer abgepasst und vergewaltigt. Als er und die anderen Heimkinder 1968 ins neue Kinder- und Jugenddorf Siloah nach Isny umzogen, kam es Dorn vor wie ein Hotel – es gab Viererzimmer. „Dann wurde einiges besser“, sagt er. Das Leid seiner Jugendtage prägen sein Leben aber bis heute.
Wie Dorn haben sich in den vergangenen Jahren mehr als 2400 Betroffene bei der Anlauf- und Beratungsstelle unter Federführung des Kommunalverbands für Jugend und Soziales gemeldet. Die Dunkelziffer ist laut Experten deutlich höher – bundesweit wird mit einer Zahl von 800 000 Betroffenen gerechnet. Ziel war die Aufarbeitung der einzelnen Leidensgeschichten – unter anderem mit Hilfe des Landesarchivs. Dieses half den Heimkindern bei der Recherche. Auch Dorn hat seine Akte gefunden – und so etwa erfahren, dass alle Briefe von ihm an seine Eltern und umgekehrt abgefangen und dort abgeheftet wurden.
Mehr als 1800 Betroffene bekamen Geld aus einem Fonds, den Bund, Land und Kommunen mit 23,3 Millionen Euro bestückt hatten. „Der Fonds war nicht als Entschädigung konzipiert, sondern als materielle Hilfe“, sagt Irmgard Fischer-Orthwein von der Anlauf- und Beratungsstelle. 17,8 Millionen Euro flossen für Konkretes – bis zu 10 000 Euro pro Person. Manche verschönerten sich ihre Wohnung, andere kauften sich ein Musikinstrument, der Grafiker und Maler Willy Dorn bezahlte damit ein größeres Fahrzeug, um seine Werke besser transportieren zu können. Für Ärger unter den Betroffenen sorgte, dass sie das Geld zweckgebunden nutzen mussten – nicht etwa für Schuldentilgung. So hatten es die Regularien des Fonds vorgegeben. 5,4 Millionen Euro aus dem Fonds dienen als Rentenersatzleistungen für jene Heimkinder, die ohne Bezahlung in den Heimen arbeiten mussten. „Es war Alltag in den Heimen, dass Kinder in den heimeigenen Betrieben arbeiten mussten“, erklärt Fischer-Orthwein. Die Betroffenen bekommen 300 Euro pro Monat.
Dorn lobt die geleistete Aufarbeitung – wie auch die Entschädigung. Damit dürfe jetzt aber nicht Schluss sein, fordert er. „Wir hätten uns gewünscht, dass der Fonds nicht so schnell beendet wird“, sagt er. 236 Betroffene hatten sich erst nach Ende der Frist bei der Beratungsstelle gemeldet. Zudem sei die Dunkelziffer riesig, sagt er. „Von uns 16 Geschwistern war ich der einzige, der sich gemeldet hat“, sagt Dorn als Beispiel. Mit Gleichgesinnten arbeitet er derzeit an einem Positionspapier. Eine Forderung darin: „Für Täter, die sich an Kindern und Jugendlichen vergriffen haben, soll es keine Verjährungsfrist geben.“
Ombudsstelle für Heimkinder
Sozialminister Lucha wiederholte vor den 200 Betroffenen seine Bitte um Entschuldigung für das erlebte Leid – diese hatte er bereits kürzlich im Namen der Landesregierung ausgesprochen. „Auch der Staat schaute zu und hat sich mit schuldig gemacht“, sagte er. Das Thema soll nicht beigelegt werden, wenn die Beratungsstelle Ende des Jahres ihre Türen schließt. Lucha will eine landesweite Ombudsstelle einrichten, an die sich aktuelle und ehemalige Heimkinder wenden können. In einem nächsten Schritt soll nun die Vergangenheit in Heimen für psychisch Kranke und Behinderte aufgearbeitet werden.