Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Über uns sprachen manche gerne von Nestbeschmutzern“
Seit 60 Jahren wird in der „Zentralen Stelle“Ludwigsburg gegen NS-Kriegsverbrecher ermittelt – Die Behörde hat nicht nur Freunde
LUDWIGSBURG - Seit 60 Jahren besteht die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. „Die Ermittler von Ludwigsburg“– so nannte sie eine Ausstellung im Jahr 2004. Bis zu 120 Personen arbeiteten in früheren Jahrzehnten in der einzigartigen Justizbehörde, nur ein paar Meter entfernt vom Ludwigsburger Barockschloss. Hier wurden Vorarbeiten geleistet zu den Frankfurter Auschwitzprozessen in den 1960er-Jahren – oder auch mitgewirkt an der Verurteilung der KZAufseher John Demjanjuk und Oskar Gröning. Auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende ist die Tätigkeit der „Zentralen Stelle“– wie sie oft abgekürzt wird – nicht beendet. Stefan Jehle unterhielt sich mit Jens Rommel, dem Chef seit Oktober 2015. Am 1. Dezember 1958 wurde die Einrichtung der Justizminister aller deutschen Bundesländer ins Leben gerufen.
Die letzten drei bis vier Jahre ist für Kinogänger zu dem Thema der staatsanwaltschaftlichen Verfolgung von NS-Tätern ja einiges geboten gewesen…
Ja, etwa in dem Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“– „Im Labyrinth des Schweigens“oder „Die Akte General“. Da ging es in erster Linie um den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der insbesondere die ersten Frankfurter Auschwitzprozesse 1963 bis 1965 in Gang gebracht hatte.
Es gab in jüngerer Zeit jetzt auch die vermutlich letzten Prozesse. Werden noch neue Anklagen kommen?
Derzeit sind vier Personen in Deutschland angeklagt, die in Konzentrationslagern Dienst getan haben sollen. Der Jüngste, der derzeit für uns in Betracht kommt, ist 91 Jahre alt: Die letzten Taten waren im Mai 1945. Wenn wir wollen, dass die Leute 18 Jahre alt und damit für ihr Handeln verantwortlich waren, dann bringt uns das ins Geburtsjahr 1927. Im Moment haben wir 91- bis 99-Jährige im Blick, und jedes Jahr fällt uns sozusagen der älteste Jahrgang weg.
Warum gibt es überhaupt jetzt noch so späte Prozesse?
Das ist in einer Entwicklung der Rechtsprechung begründet, ausgelöst durch das Verfahren John Demjanjuk. Neu bewertet für die Konzentrationslager wurde es vor allem im Prozess gegen Oskar Gröning, den sogenannten Buchhalter von Auschwitz. Dahinter steht eine grundsätzliche Frage: ab wann ist ein Einzelner mitverantwortlich, wenn der Staat Verbrechen begeht? Wo fängt die persönliche strafrechtliche Schuld des Einzelnen an? Bei Oskar Gröning wurde neu bewertet, dass er allein schon durch seinen Dienst bei der SS diese Maschinerie in Auschwitz am Laufen gehalten hat. Er war sozusagen ein Rädchen in der Maschinerie.
Das ist ein grundlegend neuer rechtlicher Ansatz.
Nach 2011, mit dem Urteil gegen den SS-Helfer Demjanjuk, hatte die „Zentrale Stelle“zuerst die Lager Auschwitz und Majdanek überprüft. 2013 haben wir dann 30 Verfahren zu mutmaßlichem Personal aus dem KZ Auschwitz abgegeben an die Staatsanwaltschaft des jeweiligen Wohnortes, weil der Tatort ja außerhalb Deutschlands liegt. Gröning war dann einer derjenigen, die angeklagt worden sind. Mit diesem neuen Ansatz kommen für uns viel mehr Personen in Betracht.
Wie viele der 30 Verfahren kamen zur Anklage?
Nur fünf der Verfahren haben es zu Gericht geschafft. Die anderen 25 wurden eingestellt, weil die Beschuldigten entweder in der Zwischenzeit verstorben sind oder nicht mehr verhandlungsfähig waren. Von den fünf, die angeklagt wurden, sind auch nur zwei verurteilt worden – nämlich Oskar Gröning und Reinhold Hanning. In den Folgejahren, nach 2013, hat die Zentrale Stelle jedes Jahr im Schnitt etwa 30 Verlung. fahren an Staatsanwaltschaften weitergegeben. 2017 waren es 28.
Wer ist derzeit noch angeklagt?
Insgesamt sind gerade vier Personen angeklagt vor deutschen Gerichten. Das ist einer in Mannheim, der in Auschwitz gewesen sein soll. Einer in Frankfurt aus dem Lager Majdanek und zwei in Münster, die in Stutthof bei Danzig gewesen sein sollen – bei einem dieser Fälle in Münster begann die Hauptverhandlung jetzt im November.
Die Einrichtung der „Zentralen Stelle“wurde früher öffentlich anders wahrgenommen als heute. Da gibt es Beispiele, dass die Ludwigsburger vor Ort oft mit Ablehnung reagiert haben. Und dann gab es den Fall mit der Beerdigung eines SS-Mannes…
Ja, Sepp Dietrich. Der Trauerzug ist hier gegenüber in der Schorndorfer Straße zum Neuen Friedhof gegangen und wechselte auf Höhe der „Zentralen Stelle“– offenbar bewusst – die Straßenseite. Es gab auch abwertende Aussagen von örtlichen Politikern. Das wäre aber vermutlich auch in jeder anderen deutschen Stadt, nicht nur in Ludwigsburg, so gewesen. Das war einfach der Geist Ende der 1950er-, Anfang der 1960erJahre, als viele tatsächlich ein Ende machen wollten mit diesen Strafverfahren. Man wollte lieber nach vorne schauen als ständig in die Vergangenheit.
Aber wenn die eigenen Landsleute das aufarbeiten, ist das was anderes als Siegerjustiz.
Ja, natürlich. Aber das war so in dieser Zeit. Bei den eigenen Landsleuten sprach man dann auch gerne von den Nestbeschmutzern. Wobei ja dann komischerweise die Aufklärer die Beschmutzer waren, und nicht die Mörder. Das lässt sich auch an Kleinigkeiten festmachen, dass sich die Taxifahrer zum Beispiel geweigert hatten, unsere Adresse hier in der Schorndorfer Straße anzufahren. Weil hier die Kameraden verfolgt würden, wie es hieß. Man musste dann das benachbarte Krankenhaus als Adresse angeben, um ans Ziel zu kommen.
Die Zentrale Stelle besteht im Dezember seit 60 Jahren. Können Sie kurz deren Werdegang beschreiben?
Das ist keine einheitliche Entwick- Die „Zentrale Stelle“war eine Nachwirkung des Ulmer Einsatzgruppenprozesses und hatte im Dezember 1958 in etwa in der Größenordnung angefangen, wie wir sie heute auch wieder haben. Der Grundgedanke war, pro Bundesland ein Ermittler – also anfangs zehn oder elf. Heute sind wir acht Ermittler.
Wie war die Entwicklung in der Zeit dazwischen?
Ende der 1960er-Jahre war das ganz anders, nachdem sich der Bundestag dazu durchgerungen hatte, die Verjährungsfrist für Mord hinauszuschieben. Da war dann auch die „Zentrale Stelle“massiv verstärkt worden: auf 49 Ermittler bei insgesamt 120 Beschäftigten. Seit dieser Zeit geht der Personalbestand, in Wellenbewegungen, wieder zurück. Letztlich ist das natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass nicht mehr so viele Beteiligte leben.
Was macht das mit den Ermittlern persönlich, wenn sie mit diesen ungeheuerlich wirkenden Taten konfrontiert werden?
Wir arbeiten heute ganz überwiegend, nahezu ausschließlich mit Papier mit dem Ziel, anhand von Quellen eine Anwesenheit oder eine bestimmte Funktion in einem Lager zu belegen. Dazu müssen wir viele Mosaiksteinchen zusammentragen. Heute arbeiten wir natürlich auch mit Sachverständigen, die das Gesamtgeschehen beschreiben können. Insofern haben wir da heute etwas mehr Distanz als frühere Generationen von Ermittlern. Für mich persönlich ist es dann auch so, dass diese Schwarz-Weiß-Fotos und das vergilbte Papier auch ein bisschen Abstand schaffen, das Geschehen etwas weiter weg in die Geschichte entrücken. Wenn ich aber etwa Listen zu Deportationszügen vor mir habe, wird mir immer wieder bewusst, dass hinter der Zahl von 1200 Deportierten dieses einen Transports einzelne Menschen stehen.
Wie wird die „Zentrale Stelle“heute öffentlich, und besonders in den Medien, wahrgenommen?
Da hat sich doch vieles gewandelt. Bei den Medien werden wir heute von neutral bis sehr wohlwollend beobachtet und bewertet mit unserer Tätigkeit. Da ist deutlich ein Stimmungsumschwung merkbar – auch durch einen Generationswechsel. Einige ausländische Medien berichten zuweilen eher erstaunt, dass wir diese Aufgabe immer noch wahrnehmen. Im Land selber ist eine große Unterstützung für die weiter laufenden Bemühungen spürbar.
Wann wurden Sie selbst beruflich oder privat erstmals aufmerksam auf die „Zentrale Stelle“?
Das war eher ein Zufall. Um 2014 hatte der damalige Leiter der „Zentralen Stelle“einen Vortrag gehalten – das war im Rahmen einer Ausstellung zu Adolf Eichmann in Ravensburg, meinem früheren Wirkungsort. Es ist also nicht so, dass das zuvor meinen Berufsweg geprägt oder ich einen persönlichen Bezug gehabt hätte – weder auf der Täter- noch auf der Opferseite. Wie bei all den Richtern, Staatsanwälten und Polizeibeamten, die hierher kommen und bereit sind, sich auf diese Verbrechen und die Hintergründe einzulassen.
Was reizte Sie an der Aufgabe?
Was mich persönlich gereizt hat, war die einmalige Chance, eine letztmalige Gelegenheit, auf diesen Teil der deutschen Geschichte zu schauen – nicht aus persönlicher Neugier, sondern tatsächlich von Berufs wegen. Zu schauen, wie man mit dem Handwerkszeug eines Staatsanwalts diese Verbrechen einigermaßen in den Griff bekommen kann, dadurch auch etwas über die Diktatur und die Mechanismen, die Verbrechen, zu lernen. Aber als Hauptaugenmerk natürlich diese Weichenstellungen in den 1950er- und 1960er-Jahren im
Blick zu haben, die bis heute unseren Umgang mit diesen Massenverbrechen prägen.
Wenn Sie diese Position der „Zentrale Stelle“ausfüllen, und aktuelle Entwicklung in Europa anschauen, mit Rechtspopulismus, mit rechtsextremistischen Strömungen: Kann so etwas wieder passieren?
Als Beamter der Justizverwaltung kann ich mich nur zu den Dingen äußern, mit denen ich beauftragt bin. Was Deutschland angeht, bin ich persönlich der Überzeugung, dass das Grundgesetz und auch die Nachkriegsgesellschaft die Lehren aus der Diktatur gezogen haben. Und ich hoffe, dass das auch in der öffentlichen Diskussion gelingt. Aus meiner Sicht haben auch die Strafprozesse zu den NS-Tätern und die gesellschaftliche Auseinandersetzung dazu beigetragen, dass die Verbrechen unbestreitbar sind. Ich hoffe auch, dass sich diese Wahrnehmung weiterhin durchsetzt.
Wie geht es künftig weiter mit der „Zentralen Stelle“?
Schon Mitte der 1990er-Jahre hatte sich in Ludwigsburg ein Förderverein gegründet, der dafür wirbt zu dokumentieren, was hier erarbeitet worden ist – als einen Ort, wo geforscht wird und die Information als Bildung weitergegeben werden kann. Ziel sind drei Säulen, die es im Kern schon gibt: Das Bundesarchiv ist seit dem Jahr 2000 hier im Gebäude selber, mit einer eigenen Außenstelle, vertreten und kümmert sich um die früheren Ermittlungsakten – also ihren Schutz und die Erschließung, damit sie für Interessierte zugänglich werden. Es gibt im Gebäude auch eine Forschungsstelle der Uni Stuttgart. Und auch das Bildungsangebot ist am Entstehen: Einmal pro Woche bietet ein Archivpädagoge für Schulklassen verschiedene Module an. Privatleuten und Besuchergruppen steht eine kleine Ausstellung im Torhaus vor dem Gebäude der „Zentrale Stelle“offen.
Es ist die Rede von Umwandlung der „Zentralen Stelle“. Was bedeutet das?
Es gibt einen Beschluss der Justizminister der Länder, wonach hier ein Gedenkort entstehen soll, mit Dokumentation, Forschung und Information. Offen gelassen sind der Zeitpunkt und das genaue Konzept. Getragen wird unsere Einrichtung von allen 16 Landesjustizministern. Baden-Württemberg hat dabei die Federführung und auch die Fachaufsicht: Sowohl in der Sache als auch bei Personalfragen werden wir vom Justizministerium in Stuttgart gut betreut.
Infos über Erfolge und Fehschläge der „Zentralen Stelle“finden Sie unter