Schwäbische Zeitung (Biberach)

Wilco-Sänger Jeff Tweedy zieht eine Zwischenbi­lanz

Der 51-Jährige überzeugt mit ehrlichen Memoiren und warmherzig­er Musik

- Von Werner Herpell

BERLIN (dpa) - Viele Rockfans werden in diesen Wochen „LetÄs Go (So We Can Get Back)“lesen und dazu „Warm“hören. Das passt. Denn die Autobiogra­fie des höchst einflussre­ichen Songwriter­s, Sängers und Gitarriste­n Jeff Tweedy geht Hand in Hand mit seinem neuen Soloalbum nicht nur wegen der nahezu zeitgleich­en Veröffentl­ichung im November.

Wortwahl und Tonfall der Memoiren, Stimmungen und Sounds der Platte erzeugen ein Gesamtbild des knorrigen, intelligen­ten US-Musikers, der vor 30 Jahren mit der Alternativ­e-Country-Truppe Uncle Tupelo bescheiden startete und seit der Gründung seiner Band Wilco (1994) dem Folkrock mit großer Experiment­ierfreude neues Leben einhauchte. Das Buch ist eine ehrliche Zwischenbi­lanz von Jeff Tweedy (51) als Privatmens­ch und Künstler. Die Platte ergänzt den seit zwei Jahren geschriebe­nen Rückblick mit einigen der warmherzig­sten und traurigste­n, aber auch hoffnungsv­ollsten Songs seiner Laufbahn.

Auf dem Buchdeckel ist der 1967 in Belleville/Illinois geborene, bis heute in Chicago lebende Tweedy als junger, noch stupsnasig-naiv in die Welt blickender Mann abgebildet. Das Albumcover zeigt ihn so, wie er heute aussieht: mit Brille, Bart und langen, schon ergrauende­n Haaren, seltsam zottelig, in einer Art Jubelpose. Kein auf Anhieb sympathisc­her oder gar attraktive­r Typ – aber eben einer mit ganz viel Charakter und Integrität, Herzensbil­dung und Lebensklug­heit.

Auf Augenhöhe mit den Großen

„Warm“knüpft vor allem in der ersten Albumhälft­e beim aufgefrisc­hten Countryroc­k von Uncle Tupelo und den frühen Wilco an. „Some Birds“erinnert nicht zufällig an The Byrds. „Don’t Forget“und die eingängige, ökologisch engagierte Single „Let’s Go Rain“gehen mit Akustik-Klampfe und Steel-Gitarre noch klarer in Richtung Folk. Die Ballade „How Hard It Is for A Desert To Die“passt zu den nachdenkli­chen Passagen der Memoiren.

Nachfolgen­de „Warm“-Lieder weisen verstärkt auf den Innovator Tweedy hin – auch wenn sie nicht ganz die Kühnheit der Wilco-Platten „Yankee Hotel Foxtrot“(2002) und „The Whole Love“(2011) oder die makellose Schönheit des Band-Meisterwer­ks „Sky Blue Sky“(2007) erreichen. Doch das virtuos schwebende „From Far Away“, der tolle Titelsong und das wunderbar zart gesungene „How Will I Find You?“ergänzen ohne Abstriche ein Gesamtwerk, das Tweedy seit 20 Jahren auf Augenhöhe mit den ganz Großen verortet: Joe Strummer von The Clash, Michael Stipe von R.E.M., Billy Bragg, Neil Young, Bob Dylan, Bruce Springstee­n.

Wie der Musiker kürzlich in der „Late Show“von Stephen Colbert zum Besten gab, wurde es höchste Zeit für die Autobiogra­fie: „Die Erinnerung­en begannen schon zu verblassen.“Tweedy hat intensive Jahre hinter sich. Dazu gehören BandStreit­ereien und Trennungen, Panikattac­ken und (inzwischen überwunden­e) Medikament­ensucht – aber auch der stabilisie­rende Wert enger Familienba­nde mit Ehefrau Sue und den Söhnen Spencer und Sam. Und natürlich große Erfolge: rauschende­s Kritikerlo­b und ausverkauf­te Hallen weltweit, Top-5-Platten in den USA, Grammy-Preise.

So sind Tweedys Buch „Let’s Go (So We Can Get Back)“und sein Album genau das geworden, was die Fans von so einem ambitionie­rten Musiker erhoffen durften: eine berührende Zwischenbi­lanz aus Worten und Klängen in der Mitte eines schon jetzt erfüllten Künstlerle­bens.

Zugleich freuen sich Verehrer der Band – bei allem Respekt für die starken neuen Solo-Songs – über die Ankündigun­g im britischen Magazin „Uncut“, wonach Tweedy „zum Jahresende wieder mit Wilco durchstart­en“werde. Denn als Frontmann dieser virtuosen Truppe um John Stirratt und Mikael Jorgensen war er immer am besten.

„Es steckt noch eine Menge nicht ausgeschöp­ftes Potenzial in Wilco“, sagte der 51-Jährige dem „Uncut“. Zudem würde er die Treue der vielen als „Follower“bezeichnet­en BandFans gern zurückzahl­en. „Ich spüre da eine ganz besondere Begeisteru­ng.“

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FOTO: WHITTEN SABBATINI Hat in seiner Autobiogra­fie von Bandstreit­ereien und Trennungen, Panikattac­ken und (inzwischen überwunden­er) Medikament­ensucht einiges zu berichten: Wilco-Sänger Jeff Tweedy.

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