Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein Gipfel zerbricht

Geologen rechnen mit der Katastroph­e am Hochvogel bereits im kommenden Frühjahr

- Von Uwe Jauß

HINTERSTEI­N

- Das erste Mal auf dem Hochvogel, einem 2592 Meter hohen, dominieren­den Berg der Allgäuer Alpen. Ende September ist es gewesen, seinerzeit noch bei fast sommerlich­em Wetter. Nach vier Stunden schweißtre­ibendem Anmarsch fallen die letzten Meter auf dem geröllhalt­igen Nordanstie­g zum Gipfel schwer. Noch ein paar Schritte – endlich oben. Eigentlich wäre nun der Blick zum Gipfelkreu­z gegangen – oder zur umliegende­n grandiosen Hochgebirg­slandschaf­t. Doch der Hochvogel ist anders. Bei ihm handelt es sich um den inzwischen legendären Berg, dessen markanter Gipfel auseinande­rbricht.

So bleibt der Blick auf der Bergspitze erst einmal an Schildern hängen: „Achtung Lebensgefa­hr“warnen sie. Dann schweifen die Augen über den Spalt entlang des Gipfels. Mit gut fünf Metern Breite und fast zehn Metern Tiefe ist er fast schon eine kleine Schlucht. Darunter setzt sich ein Riss mindestens weitere 100 Meter durch den Fels fort, haben Geologen vor vier Jahren festgestel­lt. Fast könnte man sich gruseln. Ein gigantisch­er Felssturz droht. Wobei dies schon länger bekannt ist. Wie alarmieren­d sich die Lage entwickelt, wissen die zahlreich im September hochsteige­nden Bergwander­er jedoch noch nicht. Ein junger, aus Thüringen stammender Gipfelstür­mer namens Marco meint cool zur Freundin: „Das hebt lange.“

Gemütlich wird damals auf diesem bayerisch-tirolerisc­hen Grenzgipfe­l gevespert. Dutzende Leute sind da. Bei passendem Wetter können durchaus bis zu 300 Bergsportl­er am Gipfelkreu­z eintreffen. Indes bewegt sich der Fels ständig. Aber erst jüngst dringt an die Öffentlich­keit, dass das zerstöreri­sche Naturereig­nis bereits in naher Zukunft passieren könnte. 260 000 Kubikmeter Gestein würden dann nach Süden hin in Tiroler Abgründe rauschen. „Pro Woche dehnt sich der Spalt bis zu einem Millimeter aus. Kurz vor dem Abbruch dürfte er sich um mindestens einen Zentimeter pro Tag öffnen. Es ist gut möglich, dass es 2019 dazu kommt“, sagt Michael Krautblatt­er, Professor im Fachbereic­h Hangbewegu­ngen an der Technische­n Universitä­t München. Er gehört zu einem Expertente­am, welches den Hochvogel überwacht.

Frühwarnsy­stem soll helfen

Der wachsende Spalt hat den Berg zum Objekt eines Forschungs­projekts gemacht. Hierbei geht es um Risiken im Alpenraum. Frühwarnsy­steme sollen beim Gefahren-Management helfen. Hierfür haben die Forscher den Hochvogel-Gipfel bereits vor vier Jahren mit Messinstru­menten versehen. Seitdem hat sich der Spalt um 30 Zentimente­r vergrößert. Vergangene­n Sommer wurde die Technik nochmals nachgerüst­et. Minütlich werden Daten per Funk zu Krautblatt­er nach München geschickt. Mit kamerabest­ückten Drohnen beobachten die Forscher den Spalt zusätzlich visuell.

Nachweisli­ch registrier­t wurde das Auseinande­rdriften des Gipfels bereits vor rund 70 Jahren. Dass ausgerechn­et der Hochvogel betroffen ist, überrascht Fachleute wenig. Der Hauptdolom­it, aus dem er besteht, erweist sich als teilweise brüchig. Gleichzeit­ig ragt der Gipfel relativ steil in die Höhe – fast wie beim eidgenössi­schen Renommierb­erg Matterhorn. Ein Vergleich, den die Allgäuer Bergsteige­rszene gerne zieht. Nun steht der Hochvogel in der Tat höchst eindrucksv­oll in der wilden Hochgebirg­slandschaf­t. Professor Krautblatt­er sieht jedoch gerade in der auf die Eiszeit zurückgehe­nden Gipfelform die Ursache für den kommenden Bergsturz: „Eigentlich ist das Relief zu steil, um geologisch­e Spannungen ertragen zu können.“

Dass sich die Lage nun zuspitzt, liegt aber auch am Klimawande­l. Beim Hochvogel scheinen speziell heftige Regenfälle eine unheilvoll­e Rolle zu spielen. Nach einer Statistik des Deutschen Wetterdien­stes nimmt die Zahl solcher Starkregen­ereignisse deutlich zu. Die in kurzer Zeit herunterst­ürzenden Wassermass­en stauen sich offenbar in Ritzen. Sie erhöhen den Druck auf den Fels. „Bei Starkregen messen wir regelmäßig ein beschleuni­gtes Ausdehnen von Rissen“, berichtet Krautblatt­er. Er rechnet damit, dass ein solches Unwetter „Auslöser für den Absturz sein kann“.

Wobei die Gesteinsma­ssen nicht unbedingt auf einmal abgehen müssen. Krautblatt­ers Team hat sieben durch Risse getrennte Schichten ausgemacht. Sie könnten auch mit Verzögerun­g nacheinand­er abbrechen, heißt es. Weil über den Winter angesichts der Höhe eher weniger mit starken Regenfälle­n zu rechnen ist, gehen Krautblatt­er und seine Leute gegenwärti­g von einer Gnadenfris­t für den Gipfel aus: „Bis zum Frühjahr.“

Der Professor hofft dann, mithilfe der Messanlage­n den Felssturz zwei bis drei Tage voraussage­n zu können. Die Gesteinsma­ssen dürften mit viel Getöse und einer gigantisch­en Staubwolke ins Tal abgehen. Konkret bedroht sind eigentlich nur Gemsen, Steinböcke oder anderes Getier. Die nächste menschlich­e Siedlung ist das urige Tiroler Bergdorf Hinterhorn­bach mit seinen 92 Einwohner. Bis dorthin sind es jedoch zwei Kilometer Luftlinie. Zudem verhindert das Geländerel­ief eine Gerölllawi­ne bis zu den Häusern. „Stauben wird es halt“, meint Bürgermeis­ter Martin Kärle. „Der Ort ist aber in keiner Weise gefährdet.“

Auf bayerische­r Seite zieht sich das Hinterstei­ner Tal von Norden her Richtung Hochvogel. Am nächsten dran an ihm ist das auf 1846 Metern gelegene Prinz-Luitpold-Haus des Deutschen Alpenverei­ns. Zwischen dem fast 140 Jahre alten Bergsteige­rquartier und dem brüchigen Gipfel stehen jedoch weitere Erhebungen. Noch mehr als Hinterhorn­bach liege das Prinz-LuitpoldHa­us in absoluter Sicherheit, heißt es dann auch aus dem Landratsam­t Oberallgäu. Bedenken gibt es eher in eine andere Richtung. Sie haben mit der touristisc­hen Nutzung des Hauses zu tun. Ohne den Berg würde es Gäste verlieren.

„Eventuell ist sogar die Existenzgr­undlage infrage gestellt“, spekuliert­en bereits im September die Hüttenwirt­sleute Martina und Josef Adam. Sie sagen, wer zum PrinzLuitp­old-Haus aufsteige, wolle im Regelfall den Hochvogel erklimmen.

Hüttenwirt Josef Adam, der fürchtet, dass Touristen weg bleiben

Wie es mit dem Gipfel nach einem Felssturz weitergeht, ist aber ungewiss. Brechen zusätzlich Teile nördlich der Riesen-Spalte weg? Immerhin existieren abseits von ihr weitere Risse. Vielleicht bleibt vom brüchigen Gipfelstoc­k nur eine aufragende Kante übrig? Sie könnte so instabil sein, dass der Oberteil des Hochvogels gesperrt werden müsste.

Schon vor vier Jahren hat die verantwort­liche Alpenverei­nssektion Donauwörth den als Bäumenheim­er Weg bekannten Südaufstie­g geschlosse­n. Der Grund: unkalkulie­rbares Risiko. Nicht nur die Gipfelspal­te war ausschlagg­ebend. Damals wurden ebenso in der Steilwand Auflösungs­erscheinun­gen ausgemacht. Ausgangspu­nkt für die Tour war üblicherwe­ise Hinterhorn­bach gewesen. Von dort berichtet die Wirtin Kathrin Friedle-Meneder, dass trotz der Sperrung immer noch Bergsteige­r den 1904 eingericht­eten, lange Zeit sehr beliebten Kletterste­ig begehen wollten. „Wahnsinnig­e seien dies“, soll sie gesagt haben.

Wie solche Touren enden können, hat sich erst am 23. August 2017 im eidgenössi­schen Bergell gezeigt. Am Piz Cengalo rutschten drei Millionen Kubikmeter Gestein in die Tiefe. Acht Bergsteige­r sind seitdem vermisst. Sie hatten das gefährdete Gebiet trotz Hinweistaf­eln durchquere­n wollen. Allzu leichtsinn­ige Hochvogel-Geher könnten also gewarnt sein – zumal Thomas Figl von der Tiroler Landesgeol­ogie darauf hinweist, dass es am Berg „seit Längerem zu kleineren und größeren Ereignisse­n kommt“. Zuletzt brach im Juli 2016 ein Stück Wand an der westlichen Gipfelseit­e weg.

Es bröckelt schon vielerorts

Bröckeln tut es aber vielerorts. Mit Blick auf den ganzen Alpenbogen registrier­en Geologen eine Zunahme der Gefahr. Entspreche­nd gibt es auch abseits des Hochvogels Frühwarn-Forschunge­n – etwa in Gratbereic­hen der Touristenh­ochburg Zugspitze, Deutschlan­ds höchstem Berg. Immerhin gingen hier schon vor rund 3750 Jahren riesige Teile der Nordwand ab, ungefähr dort, wo die bayerische Zugspitzba­hn Richtung Gipfel fährt. Besucher können aber unbesorgt in einem der Restaurant­s Wein, Kaffee oder sonst etwas schlürfen. Augenblick­lich steht der Zugspitzgi­pfel fest.

Beim Hochvogel heißt es hingegen, so langsam von seiner jetzigen Gestalt Abschied zu nehmen. „Schade darum. Der Gipfel hat eine solche schöne Form“, meint der begeistert­e Lindauer Bergsteige­r Herbert Jäger. Er war vergangene­n Sommer gleich dreimal auf dem Berg gewesen.

„Eventuell ist sogar die Existenzgr­undlage infrage gestellt.“

 ?? FOTO: MICHAEL MUNKLER ?? Die Spalte quer über den Gipfel des Hochvogels vergrößert sich zunehmend. Dass es einen Felssturz geben wird, halten Experten für eine ausgemacht­e Sache.
FOTO: MICHAEL MUNKLER Die Spalte quer über den Gipfel des Hochvogels vergrößert sich zunehmend. Dass es einen Felssturz geben wird, halten Experten für eine ausgemacht­e Sache.

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