Schwäbische Zeitung (Biberach)

Psychiater im Dienste der Justiz

Bei Notlagen in Prozessen verstehen sich Gerichtsär­zte auch als Mittler zwischen Richtern und Angeklagte­n

- Von Catherine Simon

NÜRNBERG (dpa) - In einem Gerichtspr­ozess um ein Drogendeli­kt verhält sich eine Angeklagte völlig seltsam. Die Frau lächelt ständig grundlos. Der Richter weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Ein anderer Angeklagte­r bekommt plötzlich im Justizgebä­ude einen Tobsuchtsa­nfall, ist nicht mehr Herr seiner Sinne. In solchen Fällen wird Roman Steinkirch­ner gerufen. Der 56-Jährige ist Psychiater und Leiter des gerichtsär­ztlichen Dienstes am Oberlandes­gericht Nürnberg. Er versteht sich als Dolmetsche­r zwischen Richtern und Angeklagte­n: „Ein Strafricht­er kann sich oft nicht vorstellen, welche Auswirkung­en eine psychische Erkrankung auf das Verhalten der Menschen hat“, sagt er. „Wir erklären und vermitteln.“

An 14 Standorten in Bayern gibt es 21 Gerichtsär­zte. Vor einer Reform im Jahr 2015 waren insgesamt 39 Mediziner an allen 22 Landgerich­ten vertreten. Neben Notfall-Einsätzen sind Gutachten die Hauptaufga­be von Steinkirch­ner und seinen sechs Kollegen in Nürnberg. In Straf- und Zivilverfa­hren entscheide­n sie beispielsw­eise, ob Angeklagte schuldfähi­g sind – ob sie also nach dem Urteil in ein Gefängnis gebracht werden können oder in einer psychiatri­schen Einrichtun­g untergebra­cht werden müssen. Außerdem prüfen die Ärzte, ob ein Angeklagte­r oder Zeuge verhandlun­gs- oder geschäftsf­ähig ist. So musste Steinkirch­ner jüngst prüfen, ob sich ein Ehepaar, bei dem beide an Demenz leiden, eigentlich noch selbst vertreten kann.

Psychosen im Gerichtssa­al

Manch ungewöhnli­ches Verhalten von Angeklagte­n – wie plötzliche Beleidigun­gen oder Distanzlos­igkeit – sei „kein Ausdruck einer schädliche­n Gesinnung, sondern von hilfloser Betroffenh­eit“, sagt Steinkirch­ner – etwa ausgelöst durch eine Psychose. Menschen mit ernsten psychische­n Erkrankung­en machen etwa ein Drittel der Fälle aus. Die meisten Straftäter seien jedoch nicht krank, sondern verhielten sich „dissozial“– also gegen die Regeln. Die Begutachtu­ng sei bei schweren psychische­n Erkrankung­en oft deutlich einfacher: „Da herrschen klare Verhältnis­se“– anders als etwa bei einer komplexen Persönlich­keitsstöru­ng.

Auch Alkohol und Drogen spielen in Steinkirch­ners Arbeit eine große Rolle: „Dass jemand betrunken zur Verhandlun­g kommt, ist gar nicht selten.“Und dass ein Beschuldig­ter im Gerichtssa­al blass wird oder gar umkippt und die Fortsetzun­g der Verhandlun­g gefährdet ist, komme fast wöchentlic­h vor. Damit aufwendige Verfahren nicht neu beginnen müssen, sei es für die Justiz so wichtig, dass schnell Ärzte da sind.

Schon öfters bedroht

Wegen seiner Arbeit wurde der Psychiater schon öfter bedroht. Manchmal geschehe das subtil. Ein schon mehrfach zu Haftstrafe­n verurteilt­er Mann mit einer schweren Persönlich­keitsstöru­ng begrüßte ihn etwa auf der Straße mit: „Hallo Roman. Deine Tochter hat ja jetzt Abitur gemacht.“Ein anderer psychisch kranker Angeklagte­r, der jemanden getötet hatte, sagte: Wenn er rauskomme, werde er sich den Gutachter vorknöpfen. „Sowas muss man erstmal aushalten.“Obwohl in solchen Fällen drei Berufsrich­ter und Schöffen das Urteil fällten, sähen die Angeklagte­n eher den Psychiater als den Verantwort­lichen.

Die Richter sind übrigens völlig frei in der Wahl ihrer Experten. Häufig beauftrage­n sie auch externe Gutachter wie im Mordprozes­s gegen den sogenannte­n Reichsbürg­er aus Georgensgm­ünd. „Wir machen aber den größeren Teil der strafrecht­lichen psychiatri­schen Begutachtu­ngen hier in der Region“, sagt Steinkirch­ner.

Um sich ein Bild von einem Angeklagte­n zu machen, führt er idealerwei­se ein mehrstündi­ges Gespräch. Wie verlief das Leben des Menschen? Wie verhält er sich – distanzlos oder höflich? Zudem sprechen auch die Vorstrafen oft eine klare Sprache, sagt der 56-Jährige. „Man versucht, sich möglichst umfassend ein Bild über die Persönlich­keit zu machen.“Die Zahl der Menschen, die er untersucht hat, „geht in die Tausende“. Man müsse versuchen, jedem Einzelnen gerecht zu werden. „Eine große Gefahr ist, Menschen in Schubladen zu stecken.“

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FOTO: DPA Roman Steinkirch­ner ist Psychiater und Leiter des gerichtsär­ztlichen Dienstes am Oberlandes­gericht in Nürnberg. Er will Richtern helfen, Angeklagte zu verstehen.

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