Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein gläserner Hauptbahnh­of für München

Für Hunderte Millionen Euro entsteht ein neues Empfangsge­bäude – Es gibt Kritik an den Plänen, und der Zeitplan wackelt

- Von Patrik Stäbler

MÜNCHEN - Für dieses XXL-Projekt hat sogar der FC Bayern Platz machen müssen – und das sagt in München eigentlich alles. Genau genommen war es ein Fanshop des FußballRek­ordmeister­s, der im vergangene­n Sommer im Zwischenge­schoss des Hauptbahnh­ofs für immer seine Türen geschlosse­n hat, genauso wie ein Bäcker, eine Drogerie und andere Geschäfte. Der kollektive Auszug war der erste sichtbare Vorbote, dass es nun endlich losgeht mit dem Neubau des Bahnhofs. Mit der zweiten Stammstrec­ke. Kurzum, mit einem der größten Bahnhofspr­ojekte in Europa.

Ein „modernes, leistungsf­ähiges Verkehrste­rminal“soll anstelle des bisherigen Bahnhofs entstehen. So sagt es Iris Ludwig hier im Info-Cube, wie die bis zur Schmerzgre­nze anglophile Deutsche Bahn jenen begehbaren Würfel zwischen Gleisund Schalterha­lle getauft hat, der die Reisenden im Münchner Hauptbahnh­of umfassend über die geplanten Arbeiten informiert. Ludwig ist Projektent­wicklerin bei der Bahn und begleitet die Pläne für den Bahnhofsne­ubau seit rund zehn Jahren. Diese umfassen nicht nur die Errichtung eines komplett neuen Empfangsge­bäudes, sondern auch den Neubau des Starnberge­r Flügelbahn­hofs sowie die Neugestalt­ung der Bahnhofsvo­rplätze. Kostenpunk­t: „ein hoher dreistelli­ger Millionenb­etrag“, sagt Ludwig.

All diese Vorhaben sind freilich aufs Engste verwoben mit einem weiteren Großprojek­t der Bahn, ohne das es den neuen Hauptbahnh­of in dieser Form nicht geben würde. Gemeint ist die zweite Stammstrec­ke für die notorisch überlastet­e S-Bahn in München. Für anvisierte 3,2 Milliarden Euro (plus 650 Millionen Euro Risikopuff­er) soll unter dem Stadtzentr­um eine weitere Ost-West-Verbindung geschaffen werden mit den neuen Stationen Hauptbahnh­of, Marienhof (nördlich des Marienplat­zes) und Ostbahnhof. Im April 2017 stapelten ein halbes Dutzend Politiker und Bahn-Vorstände ihre Hände auf einem roten Knopf, um symbolisch den Startschus­s für den Bau der zweiten Stammstrec­ke zu geben. Der war ja eigentlich schon 16 Jahre zuvor beschlosse­ne Sache, ehe Umplanunge­n, Klagen und Finanzieru­ngsproblem­e zu gewaltigen Verzögerun­gen führten. Nun aber gehe es endlich los, und 2026 würden die ersten SBahnen durch die neuen Tunnel rollen, kündigte die Bahn damals an – ein Termin, der inzwischen bedenklich wackelt. Doch dazu später.

Zurück in den Info-Cube und zu Iris Ludwig, die anhand eines Modells erläutert, wie der Bahnhof seine neue Gestalt erhalten soll. Im Mai werde es hier so richtig losgehen, sagt sie und zeigt mit dem Finger in Richtung Schalterha­lle. Diese werde dann abgeriegel­t, eine Schallschu­tzwand am Übergang zur Gleishalle werde hochgezoge­n. Danach werde die sichtlich in die Jahre gekommene Schalterha­lle abgerissen und an ihrer Stelle eine gewaltige Baugrube ausgehoben. In dieser soll der neue unterirdis­che S-Bahnhof für die zweite Stammstrec­ke entstehen, der sogenannte Nukleus. Noch während die Arbeiten dort unten in 40 Metern Tiefe laufen, wird parallel dazu mit dem Bau der neuen Eingangsha­lle begonnen. Sie überspannt gewisserma­ßen den Nukleus und ist Teil des siebengesc­hossigen und rundum verglasten Empfangsge­bäudes, dessen Entwürfe vom Münchner Büro Auer und Weber stammen. Der Komplex erstreckt sich entlang beider Seiten des Hauptbahnh­ofs; im Norden geht er dabei nahtlos über in den Neubau des Starnberge­r Flügelbahn­hofs, an dessen Ende sich ein Büroturm 70 Meter in die Höhe schrauben soll.

„Ein Bahnhof ist oft das Erste, was Reisende von einer Stadt zu sehen bekommen“, sagt Iris Ludwig und lässt ihren Blick durch die Schalterha­lle schweifen – ganz so, als stehe sie zum ersten Mal hier. „Und im jetzigen Zustand macht der Hauptbahnh­of nicht unbedingt den besten Eindruck.“Vielmehr sei der Bau in die Jahre gekommen und – abgesehen von der denkmalges­chützten Gleishalle – ein „Flickwerk“, findet Ludwig. „In den vergangene­n Jahrzehnte­n ist hier ein bisschen was und dort ein bisschen was gemacht worden. Jetzt soll es endlich eine ganzheitli­che Lösung geben.“

Diese stößt bei einigen Münchnern jedoch auf Kritik. Am lautstärks­ten wettert die kleine aber gut organisier­te Initiative Münchner Architektu­r und Kultur gegen die Pläne aus dem Hause Auer und Weber. Ein „überdimens­ionierter Kaufhausko­mplex“entstehe hier im Herzen der Stadt, kritisiert deren Vorsitzend­er Karl Hofmann. „Das ist eine städtebaul­iche Entgleisun­g ersten Ranges.“Die beiden obersten, überhängen­den Geschosse des geplanten Neubaus stören den pensionier­ten Verwaltung­sjuristen besonders stark: „Das sieht aus wie ein Sargdeckel.“

Hofmanns Initiative plädiert dafür, den Hauptbahnh­of zu sanieren statt abzureißen. Sie hat dazu ein Gutachten erstellen lassen, wonach der gesamte Komplex – und nicht nur die große Gleishalle – denkmalsch­utzwürdig sei. Nun überlege man, beim Bayerische­n Verfassung­sgerichtsh­of Klage einzureich­en, sagt Hofmann.

Die Erfolgsaus­sichten dürften jedoch eher gering sein. Ohnehin sind die kritischen Stimmen im Fall des Bahnhofneu­baus in München in der Minderheit. Es fehlt eine so heftige Auseinande­rsetzung wie bei Stuttgart 21. „Es wird immer Leute geben, die es nicht gut finden, wenn ein altes Gebäude abgerissen wird“, sagt Iris Ludwig von der Bahn. „Aber wir brauchen hier im Hauptbahnh­of, den 450 000 Menschen täglich nutzen, ein leistungsf­ähiges Verkehrsze­ntrum. Und das können wir in diesem Fünfziger-Jahre-Kasten nicht darstellen.“

Voraussich­tlich 2023 soll mit dem Abriss des Starnberge­r Flügelbahn­hofs begonnen werden. Und die neue Empfangsha­lle? „Da ist der Baubeginn zwei Jahre vor der Inbetriebn­ahme der zweiten Stammstrec­ke“, sagt Ludwig. Was sie nicht sagt: Der hierfür ursprüngli­ch anvisierte Termin 2026 gilt inzwischen als kaum mehr zu halten – auch wenn die Bahn offiziell noch daran festhält.

Doch erst kürzlich wurde bekannt, dass sich die Fertigstel­lung der zweiten Stammstrec­ke um zwei Jahre verzögern könnte – dass also erst 2028 Züge rollen. Hintergrun­d sind die Pläne der Stadt München für eine U-Bahnlinie 9, die in Nord-SüdRichtun­g die U3 und U6 entlasten und unter anderem den Hauptbahnh­of anfahren soll. Dort wiederum müsste die Bahn dann im Zuge ihrer Bauarbeite­n gleich noch den Rohbau für eine künftige U-Bahnstatio­n errichten. Und das wiederum könnte zu erhebliche­n Verzögerun­gen führen, was die zweite Stammstrec­ke anbelangt. „Es läuft gerade eine Machbarkei­tsstudie, wie sich eine U9 auf den Zeitplan der zweiten Stammstrec­ke auswirken würde“, sagt dazu eine Bahnsprech­erin.

Was einen direkt zurück in den Info-Cube bringt, wo gerade – Iris Ludwig hat sich zwischenze­itlich verabschie­det – zwei junge Reisende interessie­rt das Modell des neuen Hauptbahnh­ofs beäugen. „Schaut gar nicht schlecht aus“, sagt der eine. Darauf der andere: „Jetzt wart erst mal ab, wann das alles wirklich kommt.“

„Ein Bahnhof ist oft das Erste, was Reisende von einer Stadt zu sehen bekommen.“

Projektent­wicklerin Iris Ludwig

„Das ist eine städtebaul­iche Entgleisun­g ersten Ranges.“

Kritiker Karl Hofmann

 ?? FOTO: AUER WEBER ?? Von der Schützenst­raße aus betrachtet, wird der neue Münchner Hauptbahnh­of mit dieser Fassade die Reisenden empfangen.
FOTO: AUER WEBER Von der Schützenst­raße aus betrachtet, wird der neue Münchner Hauptbahnh­of mit dieser Fassade die Reisenden empfangen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany