Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Zeichen deuten
Im Nachhinein war es natürlich kein Tag wie jeder andere. Als er zur Bürotür hineinkam, lag ein Zettel auf seinem Schreibtisch: „Bitte um Rückruf“mit einer ihm wohlbekannten Nummer. Ein Blick zurück durch die offene Tür, aber seine Sekretärin schaute recht vieldeutig und zuckte nur mit den Achseln.
Der Termin war gleich vereinbart. „Sie wissen ja“, kam sein Chef gleich zur Sache, „dass ich stichprobenhaft immer wieder die Abteilungen überprüfen lasse.“Er lehnte sich etwas zurück, um dann süffisant hinzuzufügen: „Das mache ich bei allen. In Ihrem Fall habe ich das Ganze umgehend an die Geschäftsleitung weitergegeben. Sie hören dann von denen.“
Er wollte seinen Chef noch fragen, wieso er ihn nicht darauf offen angesprochen habe und warum er ihm keine Gelegenheit gab, dazu Stellung zu nehmen. Aber er kannte ihn als einen selbstgerechten Moralisten, der keine Menschlichkeit erkennen ließ.
Ein Chaos an Gedanken und Gefühlen überflutete ihn, immer wieder versuchte er, in der Vergangenheit einen Ansatzpunkt zu finden. Hatte er etwas falsch gemacht, wird man ihn beschuldigen – er wusste es selbst nicht. Am nächsten Morgen war die Mitteilung der Geschäftsleitung da, in der man fragte, drängte, suchte…,
Zu Hause konnte er nicht mehr abschalten, immer wieder die Gedanken, das Grübeln. Seine Familie stand zu ihm, die Mitarbeiter seiner Abteilung ebenfalls, schenkten ihm ihr Vertrauen, versuchten zu ermutigen. Gleichzeitig waren da Projekte fertigzustellen, Fristen einzuhalten, der Druck kaum auszuhalten. Abschalten am Wochenende oder in der Freizeit nicht mehr möglich. Würde man ihn beschuldigen oder entlasten können? Er war am Boden.
In welcher Haltung konnte er da noch beten? Die Hände falten? Knien in einer Bank? Aufrecht stehen, den Blick zum Himmel und die Hände erheben? Nein. Unmöglich. Es gab nur eine Haltung, die ausdrückte, was er fühlte: „Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“
„Daniel, Daniel ...“so hatte er auch einmal in einem Gedicht von Nelly Sachs gelesen, der sollte die Zeichen deuten und stand doch selbst zwischen Traum und Albtraum. Ratlosigkeit und Sorge durchzogen die Bilder des Daniel-Buches in der Bibel: Menschen, die vor der Grausamkeit der Mächtigen eine Zuflucht suchen und hoffen, nicht aus Gottes Hand zu fallen.
Bei einem Geschäftsessen erzählte er alles einem Kollegen, der gab ihm umgehend die Telefonnummer einer Rechtsanwaltskanzlei, die, als er seinen Fall schilderte, auch sofort einen Termin für ihn hatte.
Mit gemischten Gefühlen machte er sich dorthin auf. Zwei Anwälte hatten den Sachverhalt bereits aufgrund der Unterlagen, die er zur Verfügung stellen konnte, aufbereitet. Das Wort stand plötzlich im Raum: Mobbing. Typischerweise ein Anschwärzen bei anderen, und zwar hinter dem Rücken des Betroffenen, Ausdruck von Niedertracht und Boshaftigkeit – der Betroffene hat keine Möglichkeiten sich zu wehren.
Danach ging alles sehr schnell. Die Nachricht der Geschäftsleitung war so kurz wie unmissverständlich. Als er zur Abteilungsleiterbesprechung kam, schüttelte der Chef ihm demonstrativ vor allen anderen die Hand. Gedemütigt ja, aber auch wieder aufgerichtet? Freigesprochen sozusagen, aber auch wirklich frei?
Er hatte wie Daniel erfahren, wie das ist, wenn die Welt für einen persönlich aus den Fugen gerät. Und dennoch: Er hatte sich bei Gott aufgehoben gewusst.