Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die Zeichen deuten

- Von Jörg Martin Schwarz

Im Nachhinein war es natürlich kein Tag wie jeder andere. Als er zur Bürotür hineinkam, lag ein Zettel auf seinem Schreibtis­ch: „Bitte um Rückruf“mit einer ihm wohlbekann­ten Nummer. Ein Blick zurück durch die offene Tür, aber seine Sekretärin schaute recht vieldeutig und zuckte nur mit den Achseln.

Der Termin war gleich vereinbart. „Sie wissen ja“, kam sein Chef gleich zur Sache, „dass ich stichprobe­nhaft immer wieder die Abteilunge­n überprüfen lasse.“Er lehnte sich etwas zurück, um dann süffisant hinzuzufüg­en: „Das mache ich bei allen. In Ihrem Fall habe ich das Ganze umgehend an die Geschäftsl­eitung weitergege­ben. Sie hören dann von denen.“

Er wollte seinen Chef noch fragen, wieso er ihn nicht darauf offen angesproch­en habe und warum er ihm keine Gelegenhei­t gab, dazu Stellung zu nehmen. Aber er kannte ihn als einen selbstgere­chten Moralisten, der keine Menschlich­keit erkennen ließ.

Ein Chaos an Gedanken und Gefühlen überflutet­e ihn, immer wieder versuchte er, in der Vergangenh­eit einen Ansatzpunk­t zu finden. Hatte er etwas falsch gemacht, wird man ihn beschuldig­en – er wusste es selbst nicht. Am nächsten Morgen war die Mitteilung der Geschäftsl­eitung da, in der man fragte, drängte, suchte…,

Zu Hause konnte er nicht mehr abschalten, immer wieder die Gedanken, das Grübeln. Seine Familie stand zu ihm, die Mitarbeite­r seiner Abteilung ebenfalls, schenkten ihm ihr Vertrauen, versuchten zu ermutigen. Gleichzeit­ig waren da Projekte fertigzust­ellen, Fristen einzuhalte­n, der Druck kaum auszuhalte­n. Abschalten am Wochenende oder in der Freizeit nicht mehr möglich. Würde man ihn beschuldig­en oder entlasten können? Er war am Boden.

In welcher Haltung konnte er da noch beten? Die Hände falten? Knien in einer Bank? Aufrecht stehen, den Blick zum Himmel und die Hände erheben? Nein. Unmöglich. Es gab nur eine Haltung, die ausdrückte, was er fühlte: „Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigk­eit, sondern auf deine große Barmherzig­keit.“

„Daniel, Daniel ...“so hatte er auch einmal in einem Gedicht von Nelly Sachs gelesen, der sollte die Zeichen deuten und stand doch selbst zwischen Traum und Albtraum. Ratlosigke­it und Sorge durchzogen die Bilder des Daniel-Buches in der Bibel: Menschen, die vor der Grausamkei­t der Mächtigen eine Zuflucht suchen und hoffen, nicht aus Gottes Hand zu fallen.

Bei einem Geschäftse­ssen erzählte er alles einem Kollegen, der gab ihm umgehend die Telefonnum­mer einer Rechtsanwa­ltskanzlei, die, als er seinen Fall schilderte, auch sofort einen Termin für ihn hatte.

Mit gemischten Gefühlen machte er sich dorthin auf. Zwei Anwälte hatten den Sachverhal­t bereits aufgrund der Unterlagen, die er zur Verfügung stellen konnte, aufbereite­t. Das Wort stand plötzlich im Raum: Mobbing. Typischerw­eise ein Anschwärze­n bei anderen, und zwar hinter dem Rücken des Betroffene­n, Ausdruck von Niedertrac­ht und Boshaftigk­eit – der Betroffene hat keine Möglichkei­ten sich zu wehren.

Danach ging alles sehr schnell. Die Nachricht der Geschäftsl­eitung war so kurz wie unmissvers­tändlich. Als er zur Abteilungs­leiterbesp­rechung kam, schüttelte der Chef ihm demonstrat­iv vor allen anderen die Hand. Gedemütigt ja, aber auch wieder aufgericht­et? Freigespro­chen sozusagen, aber auch wirklich frei?

Er hatte wie Daniel erfahren, wie das ist, wenn die Welt für einen persönlich aus den Fugen gerät. Und dennoch: Er hatte sich bei Gott aufgehoben gewusst.

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FOTO: PRIVAT Pfarrer Jörg Martin Schwarz, Ochsenhaus­en

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