Schwäbische Zeitung (Biberach)
Klima beim EU-Gipfel nur eine Fußnote
Kritik von Umweltaktivisten, Wirtschaft reagiert erleichtert – Streit über Spitzenposten
BRÜSSEL/AACHEN (AFP/dpa) - Das Scheitern der EU-Staats- und Regierungschefs bei der Festlegung auf eine Klimaneutralität bis 2050 ist bei Umweltaktivisten, etwa bei der großen internationalen „Fridays for Future“-Demonstration in Aachen, auf Kritik gestoßen. Die Aktivisten warfen der EU am Freitag vor, nicht ausreichend auf die Sorgen der Menschen zu reagieren. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) zeigten sich dennoch nicht unzufrieden.
Merkel betonte, dass es eine große Mehrheit für 2050 gebe. Außerdem wollten alle EU-Staaten das Pariser Klimaabkommen einhalten und verträten die bereits vereinbarten Klimaziele für 2030. Nach Ende des Gipfels, der vor allem der Besetzung der EU-Spitzenämter hatte dienen sollen, sagte Merkel, noch im März habe sie nicht mit einer so breiten Mehrheit für die Klimaneutralität 2050 gerechnet. Deutschland selbst habe erst entscheiden müssen, ob es sich dem Ziel anschließe. Insofern finde sie, „dass es besser ist, als ich erwartet hatte“. Schulze erklärte: „Das ist ein großer Schritt für den Klimaschutz nach vorn.“De facto wird das Ziel Treibhausgasneutralität bis 2050 in der Gipfelerklärung in einer Fußnote erwähnt. Darin steht, dass die große Mehrheit der Mitgliedstaaten für dieses Ziel ist. Für einen Beschluss wäre Einstimmigkeit notwendig gewesen; Polen, Ungarn und Tschechien verhinderten dies.
„Die Hauptsorge der Menschen in der EU ist die Klimakrise und die Frage, wie man sie eindämmt“, erklärte Christoph Bals von der Entwicklungsund Umweltorganisation Germanwatch am Freitag. Zwar hätten die EU-Staats- und Regierungschefs darauf reagiert, indem sie den Klimaschutz zu einer Hauptaufgabe gemacht hätten. „Aber sie sind gescheitert bei der ersten Bewährungsprobe für diese Schwerpunktsetzung.“Auch die Umweltorganisation WWF kritisierte das Scheitern.
Die Wirtschaft reagierte erleichtert. Mit dem „Verzicht auf die Festlegung für eine europaweite Treibhausgasneutralität bis 2050“habe die EU „verhindert, dass die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit in Europa noch größer wird“, sagte Holger Lösch, der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Industrie.
Verhärtet sind die Fronten auch bei der Besetzung der EU-Spitzenjobs. So werden Manfred Weber (CSU), dem Spitzenkandidaten der konservativen EVP, kaum noch Chancen eingeräumt, Nachfolger von Kommissionschef Jean-Claude Juncker zu werden. Auch die anderen Topkandidaten haben schlechte Karten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärte, es seien neue Namen nötig. Dies stößt im EUParlament auf Widerstand. Die Entscheidung soll nun bei einem Sondergipfel nächste Woche Sonntag fallen.
AACHEN (dpa) - Tausende haben sich in Aachen an einer Demonstration der Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“beteiligt. Die Organisatoren sprachen von mehreren Zehntausend Demonstranten, die Polizei sprach von 10 000 bis 20 000 Teilnehmern. Auf Transparenten, in Sprechchören und Reden forderten die Demonstranten ein schnelles Abschalten der Kohlekraftwerke und andere einschneidende Schritte zur Begrenzung des Klimawandels.
„Wir müssen jetzt etwas tun, es ist eigentlich schon zu spät“, warnte Malika Scheller (17) aus Freiburg. Der Klimaschutz sei eine „Existenzfrage“, erklärte Alexander Beck (18) aus Überlingen (Bodenseekreis). Lange nicht alle Schüler schwänzten den Unterricht: Viele Schulen hatten den Freitag als Brückentag zwischen Fronleichnam und dem Wochenende freigegeben. Auf Plakaten, Schildern und Transparenten waren Aufschriften zu lesen wie: „Die Dinos dachten auch, sie hätten Zeit“oder „Grandma, what’s a Snowman?“(Oma, was ist ein Schneemann?).
In der Heimat von Rezo
Mehrere Schilder bezogen sich auch auf das Rezo-Video „Die Zerstörung der CDU“, das vor der Europawahl eine neue Klimaschutzdebatte entfacht hatte. Aachen ist der Wohnort des YouTubers, der nach eigenen Angaben selbst am Protestzug teilnahm. Der junge Mann mit dem blauen Haarkamm verbreitete bei Instagram mehrere Videos von der Großdemo. In einer Szene filmte er einen Demonstranten mit einem Plakat, das einen gemalten Rezo zeigte. Kommentar des YouTubers: „Alter, wie cool – ich bin sogar auf Plakaten drauf.“
Familien mit Kindern beteiligten sich ebenso an der Demonstration wie ältere Leute. Einer der Ältesten war der 88 Jahre alte Erasmus aus Köln. „Wir unterstützen die Schüler, wir wollen zeigen, dass wir Alten dieselben Ideen haben und dieselben Ziele“, sagte er.
Rund 40 Kilometer entfernt, am Tagebau Garzweiler, war unterdessen ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Klimaaktivisten und Polizei im Gange. Die Polizei sperrte kurzzeitig den Bahnhof Viersen am Niederrhein, nachdem sich etwa 1000 Aktivisten auf dem Weg dorthin gemacht hatten. Die Menschen kamen nach Polizeiangaben aus dem Camp des Aktionsbündnisses „Ende Gelände“, das Blockaden im Rheinischen Revier angekündigt hatte. „Wir möchten damit verhindern, dass mit der Bahn zum Tagebau angereist wird, um da Straftaten zu begehen“, begründete eine Sprecherin der Aachener Polizei das Vorgehen.
Die rund 1000 Demonstranten seien auf dem Weg zu Mahnwachen und Versammlungen gewesen, sagte die Sprecherin des Aktionsbündnisses, Kathrin Henneberger. „Die Polizei nimmt jungen Menschen das Grundrecht, für ihre Zukunft zu protestieren“, kritisierte sie.