Schwäbische Zeitung (Biberach)
Grenzen gegen Grapscher
Seit sexuelle Belästigung eine Straftat ist, zeigen deutlich mehr Opfer die Übergriffe an – Verurteilt werden die Täter aber eher selten
RAVENSBURG - Als Monika Wagner ihren neuen Job bei einer Versicherung anfing und der nette Kollege sie einarbeitete, dachte sie nicht im Entferntesten daran, Angst und Panikattacken zu bekommen. Oder an den Drang einer alptraumhaften Lage irgendwie entrinnen zu müssen. Von Anfang an pflegte die 28-Jährige einen freundlichen, aber professionellen Umgang mit dem Mann, der auch nach der Einarbeitung weiter ihre Nähe suchte. Der immer mit ihr sprechen wollte, der sich entgegen ihrer Zurückhaltung nicht auf Distanz halten ließ. Als sie dann einmal im Kopierund Druckerraum mit ihm alleine war, drückte er sich ganz nah an ihr vorbei. Und berührte dabei ihre Brust, scheinbar zufällig. Nicht die letzte Begegnung dieser Art.
Von Erlebnissen wie diesen können viele Frauen berichten, oft lösen sie Scham und Schuldgefühle aus, das Reden darüber fällt ihnen schwer. Die Schweigsamkeit verwundert kaum, galt sexuelle Belästigung doch lange Zeit nicht einmal als Straftatbestand. Das sollte sich nicht zuletzt infolge der Kölner Silvesternacht 2015/2016 ändern, als Hunderte Frauen in Schritt, an Po und Brust begrapscht wurden. Als sie genötigt, umzingelt und bestohlen wurden. „Ich habe von allen Seiten Hände an meinem Körper gespürt“, berichtete damals eine 20-Jährige. „Wir waren wie Fleisch an der Theke.“
Nein zum Klaps auf den Po
Die Täter waren vorwiegend Männer aus dem afrikanischen und arabischen Raum, eine Novelle des Sexualstrafrechts war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon in Arbeit. Durch die Silvesternacht gewann sie an Fahrt, vor allem wurde sie Ende 2016 schärfer umgesetzt als geplant. Seither lautet der Grundsatz: „Nein heißt Nein.“
Nein zu Grapschern am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum oder beim Sport. Nein zu einem Klaps auf den Po, zu Berührungen an Schulter, Knie und Kopf, zu bedrängen, drohen und einschüchtern. Nein zu einer Handlung gegen den „erkennbaren Willen einer anderen Person“, wie es im Juristendeutsch heißt. Seither braucht es kein Gewaltelement mehr zu einer Verurteilung wegen eines Sexualdelikts bei Erwachsenen. So weit die Theorie. Die sich wie so oft in der Praxis als schwierig erweist. Die den Opfern aber trotzdem Mut gemacht hat.
„Ich bin beeindruckt von der Wirkung der Rechtsnovelle“, sagt Erwin Hetger, Landesvorsitzender der Opferhilfe Weißer Ring in Baden-Württemberg. Der langjährige Landespolizeipräsident bezieht sich auf die Kriminalstatistik, wonach 2018 in BadenWürttemberg 7607 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt wurden – ein Viertel mehr als noch im Jahr zuvor. „25 Prozent sind enorm“, sagt Hetger, was sich auch beim Weißen Ring widerspiegelt, der allein in Baden-Württemberg vergangenes Jahr 328 Opfer von Sexualdelikten finanziell unterstützt hat – 37 Prozent mehr als 2017. Für Hetger neben der Rechtsreform eine Folge der #MeToo-Debatte um sexuelle Übergriffe: „Die Betroffenen gehen nun deutlich offensiver mit dem Thema um.“
Einen offeneren Umgang mit traumatischen Erlebnissen nimmt auch Andrea Haygis wahr, vom Stuttgarter Frauenberatungs- und Therapiezentrum Fetz, das seit fast 30 Jahren Betroffene betreut. „Frauen zweifeln nach sexuellen Übergriffen oft an sich, sie hätten etwas falsch gemacht“, sagt die Traumatherapeutin. Das sei nach wie vor so. „Dennoch ist ihr Bewusstsein ausgeprägter als früher, dass der Mann kein Recht dazu hat, die persönliche Grenze zu verletzen.“
Das gelte bei schweren sexuellen Übergriffen, wenn etwa ein betrunkener Kollege nach der Betriebsfeier zum Vergewaltiger wird, wenn der vermeintlich hilfsbereite Nachbar die Frau in ihren eigenen vier Wänden überwältigt. Aber genauso bei sexueller Belästigung, worauf die Rechtsreform ja abzielt. Wenn der Kollege nicht nur anzügliche Bemerkungen macht, sondern die Frau auch eindeutig körperlich bedrängt. Wenn sich aus einem unguten Empfinden ein Gefühl der Bedrohung entwickelt. „Irgendwann steht im Raum, dass mehr passieren könnte als eine Berührung“, sagt Andrea Haygis.
An die Wand gedrängt
Genau diese Angst erfuhr Monika Wagner. Der Kollege, der ihr im Druckerraum so nah gekommen war, tauchte stets wie zufällig auf, ob beim Mittagessen, in der Teeküche oder bei einem Meeting. „Er lässt nicht locker“, stellte sie erschrocken fest. Bei einer Firmenfeier stand der Kollege plötzlich vor der Damentoilette. Als die junge Frau herauskam, drängte er sie an die Wand – und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.
Die Begegnung fuhr ihr in Glieder und Geist. In der Zeit danach konnte sie sich immer schlechter motivieren und konzentrieren. Sie erzählte ihrem Freund von dem Vorfall, der ihr aber Vorwürfe machte, sie würde sich nicht genug wehren. Schließlich rang sie sich durch, dem Chef von der Sache zu erzählen. Dieser hörte sie zwar an und sprach anschließend auch mit dem Kollegen. „Damit war der Fall aber für ihn erledigt“, sagt Monika Wagner. Die schon bald auf dem Weg zur Arbeit ihre erste Panikattacke bekam.
Die Verschärfung des Strafrechts hat die Frauen in ihrem Anzeigeverhalten gestärkt. Hat sich für sie dadurch aber auch das Klima, etwa im Arbeitsumfeld, verbessert? Nimmt die Zahl der Belästigungen, wie sie Monika Wagner erlebt hat, nun ab? Offenbar nicht. Vielmehr klagt jede vierte Frau über sexuelle Belästigung im Job, nicht selten in physischer Form. Das geht aus einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes (dbb) aus dem Jahr 2018 hervor.
Vor allem jüngere Frauen „sehen sexuelle Belästigung bzw. sexistisches Verhalten im beruflichen Umfeld als deutlich stärker verbreitet an als Männer bzw. über 30-Jährige“, heißt es in der Studie. Der dbb-Vorsitzende Ulrich Silberbach meinte, die #MeToo-Debatte und die Gesetzesverschärfung hätten zwar „das Bewusstsein geschärft“, doch Führungskräfte in Betrieben und Dienststellen müssten „intensiv zur Prävention von sexueller Gewalt“fortgebildet werden.
Firmenschulungen zu Sexualdelikten gibt auch Traumatherapeutin Haygis, die aus Erfahrung weiß: „Ein Betriebsklima zu ändern, ist sehr schwer.“Dazu müssten Firmen sexuelle Grenzverletzung zuallererst thematisieren, verbunden mit der klaren Botschaft: „Wir wollen das nicht.“Damit dies auf breiter Ebene passiere, „ist es aber noch ein weiter Weg“.
Nicht minder schwer fällt es, Opfern eine juristische Genugtuung zu verschaffen. Weil mehr Anzeigen nicht automatisch mehr Verurteilungen bedeuten, steht am Ende doch Aussage gegen Aussage.
Beweisbarkeit bleibt schwer
Entsprechend schätzte der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe ein Jahr nach der Strafverschärfung, dass nur zehn Prozent der Anzeigen tatsächlich zu einer Verurteilung des Täters führen. Für die Stuttgarter Rechtsanwältin und Mediatorin Maria Andersson ist das ein Dilemma: „Die Beweisbarkeit in solchen Fällen bleibt schwer“, sagt sie der „Schwäbischen Zeitung“. Eine Veränderung nimmt die Juristin trotzdem wahr: „Die Gerichte gehen mehr auf das Opfer ein, sie nehmen mehr Rücksicht und hören zu – die Stimmung hat sich geändert.“
Somit hat die Verschärfung des Sexualstrafrechts nicht jede Erwartung erfüllt, manche enttäuscht, aber auch Dinge angestoßen, und die Wahrnehmung von Übergriff und Ungerechtigkeit verbessert. Monika Wagner fand auf alle Fälle den Mut, sich Hilfe zu suchen. Durch die Frauenberatung konnte sie sich seelisch stabilisieren und ließ sich an einen anderen Firmenstandort versetzen. So gewann sie Abstand von ihrem Peiniger.
Vor allem erkannte die 28-Jährige, was vielen Frauen in ihrer Lage so schwerfällt: „An den traumatischen Vorkommnissen trage ich keine Schuld.“