Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Einige Kinder sind traumatisiert“
Schulpsychologin Nina Großmann über den richtigen Weg zurück ins Klassenzimmer
STUTTGART - Für viele Kinder sei die Zeit der geschlossenen Schulen ein traumatisches Erlebnis, das aufgearbeitet werden muss, sagt Nina Großmann. Im Gespräch mit Kara Ballarin erklärt die Vorsitzende des Landesverbands Schulpsychologie, worauf es beim Schulstart in BadenWürttemberg ankommt.
Frau Großmann, in einem Vorgespräch haben Sie gesagt, dass die Schulschließungen eine Katastrophe sind. Warum?
Gerade Kinder sind in ihrer Entwicklung auf Gleichaltrige angewiesen. Diese gemeinsame Lernerfahrung fällt jetzt weg. Wir machen uns Sorgen um Kinder, die sowieso eher schulfern sind. Derzeit geht viel Struktur und Autorität verloren. Wenn diese Maßnahmen nach den Osterferien fortgesetzt werden, erleben viele Kinder eine Art von Stillstand, den wir nicht wieder gut machen können.
Wie wirkt sich das aus?
Vielen Kindern fehlt eine verlässliche und stabile Tagesstruktur. Eltern haben auch Aufgaben und Bedürfnisse. Da müssen Kinder zurücktreten und werden auch mal vor den Fernseher gesetzt. Ihnen fehlt die Anregung durch die Schule, die emotionale Ausgeglichenheit geht verloren. Vor allem kleine Kinder können ihre Gefühle noch nicht kommunizieren. Sie fühlen sich unwohl. Das führt zu psychischen und auch zu körperlichen Belastungen, die sich zum Beispiel in Übelkeit oder Bauchweh ausdrücken. In der Schule können wir Schulpsychologen dem nachgehen. Jetzt sind die Kinder und Eltern auf sich gestellt.
Tun die Eltern zu wenig?
Nein, aber manche Eltern haben gar nicht die Kraft oder die Fähigkeit, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden. Dafür gibt es gesellschaftliche Angebote, die hier einspringen, und die fallen jetzt weg. Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern werden jetzt weiter abgehängt. Wir dürfen bei der ganzen Krise nicht übersehen, dass die Rettung von Leben auch Leben zerstört.
Die wissenschaftliche Akademie Leopoldina hat Vorschläge zu einem stufenweisen Schulstart vorgelegt. Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann unterstützt die Idee, zunächst für Viertklässler und solche Schüler wieder Unterricht anzubieten, die vor Abschlussprüfungen stehen. Ist das richtig?
Ich bin keine Virologin. Aus schulpsychologischer Perspektive ist ein ganz normaler Schulbeginn wünschenswert, wie nach den großen Ferien. Die Osterferien sind eine natürliche Grenze. Für die Kinder wäre ganz wichtig, dass es danach wieder losgeht – und zwar für alle. Darüber könnten sie ihren Alltag zurückgewinnen. Es braucht die ganze Klasse, um wieder ein Sicherheitsgefühl herzustellen – nicht nur 15 Schüler pro Raum, wie von der Leopoldina vorgeschlagen. Die Durchmischung ist besonders für die sozial schwachen Kinder wichtig.
Und sollten die Lehrer beim Schulstart dort weitermachen, wo sie zuletzt aufgehört haben?
Nein. Die vergangenen Wochen müssen behandelt werden wie eine schulische Krise. Das ist eine Ausnahmesituation, in der etwas passiert, das die Kinder und Lehrkräfte emotional stark in Anspruch nimmt – zum Beispiel ein Todesfall einer Lehrkraft, ein Unfall auf dem Schulweg, oder Amok-Fehlalarme, bei denen alle Türen verriegelt werden und die Polizei in Ausrüstung und mit Waffen in die Schule kommt. Wie nach solchen Ereignissen müssen wir damit rechnen, dass einige Kinder auch jetzt traumatisiert sind. Da gibt es Gesprächsbedarf.
Was sollten Schulen konkret tun?
Sich im Klassenverband auszutauschen und gehört werden ist wichtig. An jeder Schule gibt es zudem ein Krisenteam, das von uns trainiert wurde. Dieses sollte die besonders belasteten Kinder genau im Blick haben und ihnen zusätzliche Gespräche anbieten. Nach einer Krise wie dem Tod eines Lehrers oder Schülers wird häufig ein Gesprächsraum eingerichtet. Wenn wir einen solchen Raum an allen Schulen aufmachen würden, kann ich Ihnen garantieren, dass er intensiv genutzt würde.
Werden Ihre Empfehlungen im Kultusministerium vernommen?
Uns ist es ganz wichtig, den Schulen zu signalisieren, dass wir da sind. Wir können Lehrer dabei unterstützen, wenn Kinder verloren gehen – wenn sie diese digital einfach nicht erreichen. Es macht nämlich keinen Sinn, bei den entsprechenden Familien vorbeizugehen und ihnen Vorwürfe zu machen. Vielmehr sollte man diese fragen, wie man sie unterstützen kann. Wir wollen den Schulen sagen, dass sie uns beim Wiedereinstieg einbeziehen können. Gerade etwa bei der Frage: Wie finden wir Kinder, die besonders Hilfe brauchen. Auch Lehrkräfte haben Unterstützungsbedarf. Einen Brief mit diesen Empfehlungen haben wir Schulpsychologen schon vor zweieinhalb Wochen ans Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung geschickt, dem wir unterstellt sind. Seitdem wird uns versprochen, dass unser Brief an die Schulleiter im Land verschickt würde. Passiert ist bisher nichts.
Was wünschen Sie sich für den Wiedereinstieg ins Schulleben?
Ich hoffe auf gute Ideen, wie die Schulen diese Krise gemeinsam aufarbeiten und bewältigen. Und falls es zu einer stufenweisen Rückkehr kommen sollte, hoffe ich, dass die Perspektive der Frauen und Mütter einbezogen werden, die von der Krise besonders belastet sind. Wenn die Kitas und niedrigen Klassen der Grundschule nicht gleich wieder starten, frage ich mich etwa, wer die ganzen Kinder der vornehmlich weiblichen Lehrer betreuen soll.