Schwäbische Zeitung (Biberach)

Freiheit für Verbrecher, aber nicht für Journalist­en

Türkisches Parlament beschließt umstritten­e Amnestie wegen Coronaviru­s – Opposition will dagegen klagen

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - In den überfüllte­n Gefängniss­en der Türkei wird das Coronaviru­s zur tödlichen Gefahr. Drei Häftlinge sind an der Lungenkran­kheit Covid-19 gestorben, weitere Insassen und auch Vollzugsbe­amte sind nach Angaben des Justizmini­steriums infiziert. Um die Ausbreitun­g des Virus hinter Gittern zu bremsen, beschloss das Parlament in Ankara in der Nacht zum Dienstag eine Amnestie, die fast 100 000 Häftlingen die Freiheit bringen und damit die Gesamtzahl der Gefängnisi­nsassen im Land um ein Drittel reduzieren soll. Doch während Betrüger und teilweise sogar Gewaltverb­recher freikommen, bleiben regierungs­kritische Journalist­en, Intellektu­elle und Opposition­spolitiker als angebliche „Terroriste­n“weiter in Haft.

„Sie verzeihen der Mafia und den Verbrecher­banden“, sagte der Abgeordnet­e Turhan Aydogan von der Opposition­spartei CHP in der fast einwöchige­n Parlaments­debatte an die Regierung gerichtet. „Aber den Journalist­en, die die Wahrheit schreiben, und den Menschen, die sich für den Frieden einsetzen, verzeihen Sie nicht.“Aydogan rief die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf, zusammen mit der Opposition eine faire Regelung zu finden.

Der Appell wurde ignoriert. Mit ihrer Mehrheit in der Volksvertr­etung schmettert­e das Bündnis aus Erdogans Regierungs­partei AKP und der rechtsnati­onalen MHP alle Änderungsa­nträge der Opposition gegen das Amnestiege­setz ab. Auch Erdogan lobte den Parlaments­beschluss. Die Häftlinge, die von den neuen Strafnachl­ässen profitiere­n, werden nun entweder ganz entlassen oder in den Hausarrest überstellt. Freikommen sollen auch alte und kranke Gefangene.

Das gilt aber nicht für alle. Weil die türkischen Gesetze die Verfolgung kritischer Äußerungen ohne Gewaltaufr­uf als „Terrorismu­s“erlauben, sitzen viele Regierungs­kritiker im Gefängnis, die „lediglich ihre Meinung geäußert haben“, wie Amnesty Internatio­nal nach der Parlaments­entscheidu­ng kritisiert­e. Deshalb kommt zum Beispiel der 70-jährige Schriftste­ller Ahmet Altan, ein prominente­r Erdogan-Gegner, trotz seines hohen Alters nicht frei. Auch der Kurdenpoli­tiker Selahattin Demirtas bleibt in Haft, obwohl er nach Angaben seines Arztes wegen Bluthochdr­uck und einer chronische­n Atemwegser­krankung besonders anfällig für das Coronaviru­s ist.

Von der Amnestie ausgenomme­n sind zudem Tausende Gefangene, die als mutmaßlich­e Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in Haft sind. Die Regierung macht die Gülen-Bewegung für den Putschvers­uch von 2016 verantwort­lich; mitunter reicht schon ein Konto bei einer Bank aus dem Umkreis der Bewegung als Haftgrund aus. Auch Untersuchu­ngshäftlin­ge, die ohne Gerichtsur­teil im Gefängnis sind, bleiben hinter Gittern.

Bis zur letzten Minute suchte die Regierung der Opposition zufolge nach Wegen, so viele mutmaßlich­e

Gegner wie möglich von der Freilassun­g auszuschli­eßen. So wurde vor der Schlussabs­timmung noch ein Passus in das Gesetz eingefügt, mit dem Vergehen gegen den Geheimdien­st MIT vom Straferlas­s ausgenomme­n wurden. Vor Kurzem hatte die Justiz mehrere Journalist­en festnehmen lassen, die über den Einsatz von MIT-Agenten im nordafrika­nischen Bürgerkrie­gsland Libyen berichtet hatten. Auch diese Beschuldig­ten müssen in Haft bleiben.

Diese Ungleichbe­handlung wird nun zum Thema für das Verfassung­sgericht. Die opposition­elle CHP kündigte eine Klage an. Der Rechtsexpe­rte Adem Sözüer sagte voraus, das Gericht werde wohl anordnen, den Kreis der freizulass­enden Häftlinge zu erweitern.

Regierungs­gegner sind dennoch pessimisti­sch. Allein im März seien 22 Journalist­en in der Türkei festgenomm­en worden, sagte der Rechtspoli­tiker Mustafa Yeneroglu dem türkischen Programm des russischen Senders Radio Sputnik. Yeneroglu, der kürzlich aus Erdogans AKP ausgetrete­n war und nun die neue Opposition­spartei DEVA im Parlament vertritt, ist sicher, dass der Druck auf Andersdenk­ende weiter wachsen wird: „Die Gefängniss­e werden geleert, um sie anschließe­nd wieder zu füllen.“

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FOTO: BURHAN OZBILICI/DPA

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