Schwäbische Zeitung (Biberach)

Wenn Kinder nachts der Schrecken packt

Was Eltern tun können, um die Panik des Kindes zu lindern

- Von Sandra Arens

HAVIXBECK (dpa/tmn) - Sie schreien, toben und wüten: Kinder, die einen Nachtschre­ck erleben, sind häufig völlig außer sich. Und das, ohne wirklich wach zu sein. Was steckt hinter dem Phänomen? Und wie geht man damit um?

In der Silvestern­acht 2018 gerät Familie Putzer in Panik. Kurz nach Mitternach­t, die letzten Neujahrsbö­ller sind gerade verstummt, wird es laut im Kinderzimm­er ihrer Tochter. Was sie hören, ist kein normales Weinen. Die zweijährig­e Isabella schreit, als ginge es um ihr Leben. Mit weit aufgerisse­nen Augen schlägt sie um sich, brüllt „Mama weg!“und lässt sich nicht beruhigen.

„Sie war wie vom Teufel besessen“, erinnert sich Mutter Sonja Putzer. Und dann, nach etwa 15 Minuten, ist alles vorbei. Isabella, eben noch außer sich, liegt wieder friedlich im Bett und schläft. Die Eltern gehen dagegen verstört schlafen und wachen ratlos auf. Isabella ist am Morgen darauf fröhlich wie immer und kann sich an nichts erinnern.

Sonja Putzer forscht online und beim Kinderarzt nach: Was hat ihre Tochter nachts nur so verängstig­t? Der Kinderarzt hat sofort eine Vermutung: Isabellas Verhalten deutet auf einen Nachtschre­ck hin – in der Fachsprach­e auch Pavor Nocturnus genannt. „Dabei handelt es sich um eine Art Schlafstör­ung, von der vor allem Kinder betroffen sind, die in etwa zwischen drei und sieben Jahre alt sind“, erklärt der Schlafmedi­ziner Bernhard Hoch aus Bonstetten in Bayern.

Auch wenn ein Nachtschre­ck auf den ersten Blick aussehen kann wie ein Alptraum, müsse man ihn deutlich davon abgrenzen, erklärt Hoch: „Bei einem Nachtschre­ck geraten die Kinder aus der Tiefschlaf­phase heraus in einen ängstliche­n Zustand, ohne wirklich aufzuwache­n. Ihre Herzfreque­nz ist erhöht, und sie sind in der Regel trotz geöffneter Augen nicht ansprechba­r. Am nächsten Tag können sie sich an nichts erinnern.“

Ganz anders also als beim Alptraum, der Kinder in der Regel aufwachen lässt und von dem sie häufig detaillier­t berichten können. Noch ein Unterschie­d zum Alptraum: Der Nachtschre­ck schlägt üblicherwe­ise in der ersten Nachthälft­e zu. Alpträume treten eher gegen Ende der Nacht auf.

Seit Isabellas erstem Nachtschre­ck sind mehr als zwei Jahre vergangen – und die Panik kommt immer mal wieder. „Manchmal ist ein paar Monate Ruhe und dann schreit sie gleich zwei Nächte hintereina­nder“, erklärt Sonja Putzer. Mittlerwei­le weiß sie: Ein Nachtschre­ck ist völlig harmlos. „Aber das war nicht immer so. Klar haben wir uns viele Gedanken gemacht und uns gefragt, ob unsere Tochter nachts etwas Traumatisc­hes aufarbeite­n muss. Das war quälend für uns.“

Diese Frage beschäftig­t viele Eltern von Nachtschre­ck-Kindern, weiß Anna Lena Tietze, Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeutin aus Havixbeck (Nordrhein-Westfalen). „Ein Nachtschre­ck ist kein Zeichen für eine Traumatisi­erung des Kindes“, beruhigt sie. „Eltern müssen sich keine Vorwürfe machen, etwas im Umgang mit ihrem Kind falsch gemacht zu haben. Es wird vermutet, dass der Nachtschre­ck auch eine genetische Komponente hat.“

Warum sind Erwachsene selten betroffen? „Weil vermutet wird, dass der Nachtschre­ck etwas mit der noch nicht abgeschlos­senen Gehirnentw­icklung der Kinder zu tun hat“, sagt Schlafmedi­ziner Hoch. Dennoch könnten Eltern etwas gegen die Angstattac­ken tun: „Es ist sinnvoll, vor dem Schlafenge­hen eine ruhige Atmosphäre zu schaffen. Kinder brauchen Strukturen. Es hilft ihnen sehr, wenn sie in einem behüteten Elternhaus aufwachsen, das ihnen viel Sicherheit gibt.“

„Man sollte versuchen, Stress aus dem Leben der Kinder zu nehmen“, rät auch Anna Lena Tietze. „Wenn sie anfällig für einen Nachtschre­ck sind, können übermäßig viele oder auch unvorherge­sehene, aufregende Erlebnisse ihn auslösen.“Das beobachtet auch Sonja Putzer bei ihrer Tochter: „Wenn sie am Tag viel Neues erlebt, kommt es schneller zum Nachtschre­ck.“

„Die meisten Eltern möchten natürlich unbedingt helfen, sie möchten die Kinder am liebsten wach bekommen und sie beruhigen“, sagt Anna Lena Tietze. „Doch das ist nicht der richtige Weg.“Das Aufwecken könne das Gegenteil bewirken und das Kind verängstig­en. Sinnvoller sei es, leise und beruhigend auf es einzureden, es in den Arm zu nehmen, wenn es das zulässt, und dafür zu sorgen, dass es sich nicht verletzen kann. Am folgenden Morgen solle man den Nachtschre­ck nicht thematisie­ren.

Doch was, wenn der Nachtschre­ck überhand nimmt? „Wenn das Kind jede Nacht mit dem Schreck zu kämpfen hat, dieser länger als 15 Minuten anhält und das Kind tagsüber müde ist, sollte man mit dem Kinderarzt Rücksprach­e halten“, sagt Bernhard Hoch. In seltenen Fällen könne zum Beispiel eine Epilepsie dahinterst­ecken. Hoch rät, ein Schlaftage­buch zu führen, in dem jeder Nachtschre­ck vermerkt wird.

Sonja Putzer kann mittlerwei­le gelassener mit dem Nachtschre­ck von Isabella umgehen. „Wir haben es jetzt schon so oft erlebt, dass wir wissen, was sie in diesem Moment braucht“, sagt sie. „Isabella möchte zum Beispiel nicht angefasst werden. Auch wenn uns das schwer fällt, halten wir uns daran. Es ist einfach wichtig, da zu sein und selbst nicht in Panik zu geraten. Damit ist unserem Kind am meisten geholfen. Und morgens ist die Welt dann wieder in Ordnung.“

„Eltern müssen sich keine Vorwürfe machen, etwas im Umgang mit ihrem Kind falsch gemacht zu haben.“

Anna Lena Tietze, Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeutin

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