Schwäbische Zeitung (Biberach)
Als die Franzosen in Schussenried einmarschierten
75 Jahre Kriegsende: Wie sich die Welt in der Stadt für immer veränderte – Hobbyhistoriker Hermanutz
BAD SCHUSSENRIED - Am 23. April 1945 marschierten französische Truppen in Bad Schussenried ein – der Zweite Weltkrieg war für die Bürger der Stadt damit auf den Tag genau heute vor 75 Jahren de facto zu Ende. Die Schussenrieder hatten aus Biberach den Befehl erhalten, ihre Stadt gegen den Feind bis zum letzten Moment zu verteidigen. Die Verantwortlichen hatten jedoch schon früh erkannt, dass, sollten sie diesen Befehl befolgen, es unnötig viele Tote geben würde. Eine direkte Missachtung hätte jedoch ebenfalls ein Todesurteil bedeutet.
Die meisten Zeitzeugen sind inzwischen verstorben. Hobbyhistoriker Walter Hermanutz hat jedoch in weiser Voraussicht bereits vor knapp 30 Jahren, im Zeitraum zwischen 1994 bis 1996, ältere Schussenrieder über ihre Erinnerungen an das Kriegsende befragt. Die meisten dieser Zeitzeugen waren bei Kriegsende zwischen zehn und 16 Jahre alt. Die Interviews mit den 40 Zeitzeugen nahm er damals auf Tonband auf, veröffentlichte die Ergebnisse jedoch bis heute nicht.
Hermanutz hat seine Aufschriebe nun anlässlich des 75. Jahrestags der „Schwäbischen Zeitung“zur Verfügung gestellt. Dieser Artikel soll einen Einblick darin geben, wie die Verantwortlichen in Bad Schussenried sich auf den Einmarsch vorbereiteten - und wie Bürgermeister Hyazinth Müller und Zahnarzt Dr. Remigius Glötter alles daran setzten, dass so wenige Schussenrieder wie möglich an diesem besonderen Tag ihr Leben verloren.
Obwohl offiziell nicht erlaubt, hörten viele Schussenrieder heimlich den feindlichen Radiosender London. Dieser vermeldete bereits am 22. März 1945, dass französische Verbände die obere Donau in einer Frontbreite von 60 Kilometern überschritten hatten und schnell weiter vordrangen. Auch in den Tagen darauf wurde im Radio immer wieder vermeldet, wo die Front sich befand und immer näher rückte. Die Schussenrieder konnten sich also ausrechnen, wann die Franzosen bei ihnen einmarschieren würden.
In den letzten 24 Stunden vor dem Einmarsch der Franzosen spielten in Schussenried vor allem drei Personen eine wichtige Rolle: Dr. Remigius Glötter war eigentlich der Zahnarzt von Bad Schussenried. Gleichzeitig war er aber auch Chef des Volkssturms und als Pionieroffizier für die Planung der Panzersperren in der Region verantwortlich. Für die örtliche Volkssturmkompanie war Hans Eitel Friedrich verantwortlich. Der Dritte im Bunde war Bürgermeister Hyazinth Müller.
Die Recherchen von Hobbyhistoriker Walter Hermanutz belegen, dass die Verantwortlichen in den letzten Wochen und Tagen vor dem 23. April ihre Aufgaben mit betonter Trägheit angingen. Ein Beispiel: Glötter inspizierte Mitte April den Bau einer Panzersperre. Bei dieser Fahrt nahm er seinen Sohn Fritz mit den Hermanutz später interviewte. Überdies schrieb Glötter nach
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Kriegsende seine Erinnerungen nieder.
Fritz Glötter erinnert sich, dass sein Vater anordnete, bereits eingegrabene Baumstämme wieder auszugraben und die Sperre um 200 bis 500 Meter zu verlegen. Angeblich aus taktischen Gründen. Die klare Anweisung der Gauleitung und des Verteidigungsstabs in Biberach, in der Woche vom 15. bis 22. April Schussenried in den Verteidigungszustand zu versetzen und Panzersperren zu bauen, erfolgte auch sonst nur teilweise und zögernd.
In der Nacht vom 22. zum 23. April zogen die letzten Reste deutscher Soldaten aus Schussenried und vom Flugplatz Reichenbach ab. Ebenfalls verdichtete sich der Militärverkehr durch Schussenried in Richtung Süden. Gegen Mitternacht hörte der Durchzug auf.
Gegen 5 Uhr wurde am 23. April die Evakuierung der Bevölkerung vom Landratsamt Biberach angeordnet. Ebenfalls um die gleiche Zeit machten sich die ersten Schussenrieder auf, um vom Flugplatz Reichenbach alles mitzunehmen, was mitgenommen werden konnte. Später liefen in Schussenried einige Mädchen mit Dirndl aus dem Vorhangstoff vom Flugplatz herum.
Gegen 7 Uhr trafen sich der französische Kriegsgefangene Mauric Pajot und Bürgermeister Hyazinth Müller im Rathaus. Die beiden hatten zuvor heimlich eine Absprache getroffen: Pajot sollte den Kontakt zu den französischen Truppen herstellen und somit dafür sorgen, dass möglichst wenige Menschen während des Einmarschs zu Schaden kämen.
Gegen 8 Uhr erkannte Hans Eitel Friedrich die Lage und bat Josef Ott, den Besitzer der Kronenbrauerei, um ein Auto. Damit machten sich dann Josef Fischer und Charles Wagner in Richtung Saulgau los, gekennzeichnet mit einer weißen Fahne. Bei Bierstetten trafen sie auf die Panzerspitze Groupements des Oberstleutnants de Labarthe.
Gegen 8.30 Uhr richteten sich an der Wegegabel beim Bürgerstüble eine Gruppe Soldaten des Aulendorfer Bataillons unter Führung eines SSFeldwebels zur Verteidigung ein. Weitere Soldaten bezogen Posten auf der Höhe zur Einfahrt der ehemaligen Kiesgrube. Daraufhin begab sich Dr. Glötter zu der Panzersperre beim Bürgerstüble. Fritz Glötter erinnert sich, wie sein Vater ihm von diesem Tag erzählt hat. Der Zahnarzt erklärte dem Feldwebel, dass „hier nicht gekämpft werde“. Da er jedoch in ziviler Kleidung erschienen war, hörte der Feldwebel nicht auf ihn.
Gegen 9.20 Uhr waren bereits französische Panzer auf der Höhe beim Reutele eingetroffen. Für Glötter hieß es jetzt schnell handeln. Er eilte nach Hause, zog seine Felduniform an, suchte den Feldwebel wieder auf und befahl ihm, sofort abzurücken und jede Kampfhandlung zu vermeiden. Nach einigem Widerstreben leistet dieser seinem Befehl Folge und rückte ab.
Gegen 10 Uhr kehrte das Auto mit Josef Fischer und Charles Wagner sowie einigen französischen Soldaten von Reichenbach herkommend zurück. Diese entwaffneten die Soldaten, die an der Reichenbacher Straße in der Höhe der ehemaligen Kiesgrube Posten bezogen haben. Wahrscheinlich, schreibt Hermanutz, war der Überraschungseffekt, dass ein deutscher Wagen mit französischen Soldaten anfuhr, so groß, dass die deutschen Soldaten nicht schossen. Es kam daher zu keinen
Kampfhandlungen und gab auch keine Verletzten.
Glötter, rekapituliert es Jahre später sein Sohn Fritz, war sich an diesem Tag der Gefährlichkeit seiner Lage wohl bewusst. Als Soldat in deutscher Uniform konnte er entweder in Gefangenschaft geraten oder bei etwaigem Eintreffen deutscher Truppen am Galgen enden. Aber die klare Erkenntnis, dass ein einziger zweckloser Schuss Kampf und damit Tod und Zerstörung bedeuteten ließ ihn so handeln. Er schreibt in seinen Erinnerungen: „Dieses Vorkommnis hätte für mich beinahe noch ein gefährliches Nachspiel gehabt, da der Führer der Gruppe, dem ich den Kampf verboten hatte, in Aulendorf eine entstellende Meldung gemacht hatte und darauf der Befehl erteilt wurde, Major Dr. Glötter umzulegen.“Ein Offizier und drei Mann wurden nach Schussenried geschickt, um den Befehl auszuführen. „Ich war aber bereits gewarnt und außerdem wagten es die vier Männer nicht mehr, in das bereits besetzte Schussenried einzudringen.“
Gegen 13 Uhr kamen die ersten Franzosen von Aulendorf her in die Stadt. Zuerst ein Spähtrupp mit leichten Kettenfahrzeugen, dann folgten einige Panzer. Zu dieser Zeit befanden sich noch etliche Schussenrieder am Bahnhof bei einem liegengebliebenen Versorgungszug. Als einige dieser französischen Militärfahrzeuge die Bahnhofstraße entlangfuhren und Warnschüsse abgaben, suchten die Schussenrieder, die gerade ihre Leiterwagen und Fuhrwerke voll beladen hatten, in den angrenzenden Wiesen das Weite.
Gegen 14.30 Uhr kamen Panzer und Jeeps von der Sattenbeurer Kreuzung über die Buchauer Straße nach Schussenried. Es war das Groupements des Oberstleutnants de Labarthe, das sich in Reichenbach aufgeteilt hatte. Bei dieser Einmarschrute hatte Schussenried den einzigen Todesfall von einem Bürger zu beklagen. Gerhard Zinser aus Sattenbeuren war auf dem Flugplatz, um nach brauchbaren Gegenständen zu suchen. An der Buchauer Straße auf der Höhe von Geigers Wäldele überquerte er die Straße. Da Zinser fast taub war und den Befehl einer französischen Panzerbesatzung stehen zu bleiben nicht hörte, schossen diese mit ihrer Panzerkanone auf den flüchtenden Mann.
Gegen 14.45 Uhr wurde Schussenried von Reichenbach her endgültig besetzt. Von der alten Saulgauer Straße über die Adolf-Hitler-Straße ging es zum Rathaus. Wenig später erfolgte die Übergabe auf dem Marktplatz. Bürgermeister Hyazinth Müller, Zahnarzt Dr. Glötter und der zukünftige Bürgermeister Friederich übergaben den Franzosen Schussenried. Nachdem die Soldaten beim Marktplatz aus den Panzern ausgestiegen waren und der kritische Moment vorbei war, kamen die Bewohner aus ihren Häusern und versammelten sich um die Panzer. Deutschland hatte den Krieg verloren. Doch nur ein einziger Mensch verlor an diesem Tag in Bad Schussenried sein Leben, dank dem umsichtigen Handeln der genannten Männer.