Schwäbische Zeitung (Biberach)
Medikamente, Masken, Maschinenteile
Die deutsche Wirtschaft stellt ihre Abhängigkeit von internationalen Lieferketten infrage
BERLIN - Masken werden Pflicht, sind aber weiter kaum lieferbar: Die Hersteller sitzen überwiegend im Ausland und bedienen zuerst die Meistbietenden, und zum Teil ist dort die Ausfuhr sogar eingeschränkt. Apotheker geizen derweil mit Paracetamol, weil der Nachschub stockt. Auch hier heißen die wichtigsten Herstellerländer: Indien und China. In den Wochen zuvor hat auch die Autoindustrie bereits zahlreiche Störungen verzeichnet – weil wichtige Teile aus Asien, Spanien und Italien nicht mehr wie gewohnt ankamen. Corona stört die Lieferketten, und plötzlich fehlen Dinge, auf die wir uns als selbstverständlich verlassen haben.
Selbst der Exportweltmeister Deutschland stellt angesichts dieser Erfahrung das Ausmaß der Globalisierung infrage. „Die Pandemie lehrt uns, es ist nicht gut, wenn Schutzmasken und andere Ausrüstung aus anderen Ländern kommen“, sagte die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung in der vergangenen Woche. Experten sehen in dem Masken-Dilemma jedoch vor allem einen Hinweis auf eine grundlegendere Erkenntnis. „Der Optimalpunkt in der Entwicklung internationaler Wertschöpfungsketten ist wahrscheinlich überschritten“, sagt Ökonom Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Der weltweite Handel senke für viele Waren zwar die Preise und wirke zunächst sehr effizient. Doch inzwischen „sind die Kosten für den letzten Schritt der Globalisierung unterm Strich höher als der Nutzen“, was auch die Industrie zunehmend erkenne. Schließlich haben auch vergangene Schocks wie der Handelskrieg zu Problemen mit den Lieferketten geführt.
Auch außerhalb des akuten Pandemie-Managements laufen daher Gedankenspiele, um die Nachschubketten sicherer zu machen – auch in der Wirtschaft. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sieht jetzt die Zeit gekommen, das Ausmaß
der internationalen Verflechtung der deutschen Wirtschaft zu überdenken. „Die Corona-Pandemie stellt die Abhängigkeit von taggenauen Lieferketten in vielen Bereichen infrage“, sagt Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des BDI, der „Schwäbischen Zeitung“.
Wer Globalisierung bislang ausschließlich unter dem Aspekt gesehen habe, die günstigsten Einkaufsmöglichkeiten zu nutzen, der werde seine Strategie überdenken müssen, erläutert Lang. Doch der Wirtschaftsverband lehnt nationale Alleingänge zugleich klar ab. „Ich warne davor, jetzt das Ende der Globalisierung herbeizureden.“Gerade die Pandemie zeige, dass die Weltgemeinschaft
die Krise nur gemeinsam bewältigen könne.
Doch wie lässt sich das anstellen? Handel und Märkte bleiben frei, doch die Firmen sollen Waren teurer beschaffen? Zum Teil wollen die Industrieunternehmen freiwillig reagieren und ihre Beschaffung sicherer organisieren – das liegt auch im Eigeninteresse. Dazu gehört es, zusätzliche Anbieter aus der EU durch gezielt vergebene Aufträge heranzuziehen. Doch in anderen Bereichen wird Asien weiter unschlagbar günstig bleiben – vor allem bei Cent-Artikeln wie chirurgischen Masken oder massenhaft angebotenen Wirkstoffen ohne Patentschutz wie Fiebersenkern und vielen Antibiotika.
IMK-Ökonom Dullien sieht jedoch eine Reihe von Möglichkeiten für den Staat, Anreize für den Aufbau inländischer Produktion zu setzen. Der einfachste Ansatz wäre, die staatliche Beschaffung für entsprechende Artikel auf europäische Anbieter zu konzentrieren. „Das ist mit dem EU-Binnenmarkt vereinbart“, sagt Dullien. Viele Krankenhausbetreiber gehören ohnehin den Kommunen. Da ließe sich gerade bei Schutzausrüstung oder Medikamenten recht einfach etwas bewirken.
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) glaubt derweil fest an den Sinn einer verstärkten Herstellung in Deutschland. „Mit einer Produktion in Deutschland
beziehungsweise Europa lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer zuverlässigen, verbesserten, kontinuierlichen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln erhöhen“, lautet die Position der Branchenvereinigung einem Sprecher zufolge. Auch die Qualität sei dann besser. Der Verband hat eine Reihe von Ideen, wie sich der Produktionsanteil in Deutschland erhöhen lässt. Vor allem müsse das Sozialgesetzbuch dahingehend überarbeitet werden, dass die Kassen nicht mehr auf den Kauf der billigsten Medizinprodukte hinwirken.
Dass Deutschland nicht mehr wie früher die Apotheke der Welt ist, ist für den Vorstand der Ravensburger Pharmafirma Vetter, Thomas Otto, in den Rahmenbedingungen begründet. „In anderen Ländern können die Aufwendungen für die Entwicklung von Medikamenten abgeschrieben werden, bei uns nicht“, sagte Otto der „Schwäbischen Zeitung“. Kurzfristig werde sich daran nichts ändern lassen.
Ein weiteres, stärkeres Instrument des Staates zum Umsteuern wären Einfuhrzölle. Die EU könnte bestimmte Arzneigrundstoffe aus Fernost an der Grenze so weit verteuern, dass eine Herstellung im Binnenland wieder konkurrenzfähig wird. Doch auch das würde den Preisen im Gesundheitswesen gewaltigen Auftrieb geben. Die gesetzlichen Kassen würden sich über diesen Kurswechsel ärgern – denn die Arzneirabatte haben stark zur Kostensenkung der vergangenen Jahre beigetragen und das Gesundheitssystem letztlich gestärkt.
Zugleich hätten im Gesamtbild alle etwas von mehr Produktion in Europa und in Deutschland. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) strebt sie längst auch für andere wichtige Waren wie Batterien für Elektroautos an. Als Nebeneffekt gibt es dadurch mehr solide Industriejobs und höheres Steueraufkommen. Eine „bessere und stabilere Welt“verspricht sich Ökonom Dullien von einer vorsichtigen Rückführung der exzessiven Globalisierung.