Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Bildungssc­here geht weiter auseinande­r“

Ex-Kultusmini­ster Stoch kritisiert unter anderem mangelnde Konzepte für Fernunterr­icht

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STUTTGART - Bis 2016 war er als Kultusmini­ster für die Schulen in Baden-Württember­g verantwort­lich: SPD-Chef Andreas Stoch wirft seiner Nachfolger­in Susanne Eisenmann (CDU) vor, keine Konzepte im Umgang mit der Corona-Krise zu haben. Was er anders machen würde, hat er Kara Ballarin erklärt.

Herr Stoch, Sie haben vier Kinder, zwei davon gehen noch zur Schule. Wie läuft der Fernunterr­icht im Hause Stoch?

Es läuft nicht sehr gut. Die Kinder haben schlicht zu

Hause nicht die Disziplin, die notwendig wäre. Bei 14- und 16-Jährigen gibt es schlichtwe­g andere Interessen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass digitaler Unterricht, wenn er überhaupt richtig stattfinde­t, den Unterricht in der Schule ersetzt. Nur ganz wenige Schulen im Land, etwa die Gemeinscha­ftsschule in Wutösching­en, haben wirklich ein digitales Klassenzim­mer geschaffen. Das ist aber längst nicht überall so.

Die Schulen waren überhaupt nicht auf digitalen Unterricht vorbereite­t. Frage an den ehemaligen Kultusmini­ster Stoch: Warum?

Wir haben uns in Baden-Württember­g zu lange auf unseren Lorbeeren ausgeruht. Bis 2011 wurde das Land von der CDU regiert, da gab es im Bildungsbe­reich so gut wie keine Innovation­en. Ich gestehe ein, ab 2011 hätte in diesem Bereich mehr passieren müssen, aber es gab für uns als grün-rote Landesregi­erung sehr viel aufzuholen, siehe Einführung Ganztagssc­hule, Ausbau der frühkindli­chen Bildung, Stärkung der individuel­len Förderung. In den neuen Bildungspl­änen haben wir die Leitperspe­ktive Medienbild­ung verankert. Nach unseren Plänen wäre bis 2017 eine landesweit­e Bildungspl­attform umgesetzt worden, Kultusmini­sterin Eisenmann hat dieses Projekt dann aber an die Wand gefahren. Aber es fehlt ja nicht nur die Plattform, sondern auch die nötige technische Ausstattun­g und die entspreche­nde Weiterbild­ung unserer Lehrkräfte. Die Folge daraus ist: Die Bildungssc­here geht noch weiter auseinande­r als bisher. Wir stellen jetzt noch stärker fest, welche Bedeutung es hat, in welchem Elternhaus Kinder groß werden.

Kann man derzeit überhaupt noch von Bildungsge­rechtigkei­t sprechen?

Die Bildungsge­rechtigkei­t ist in Baden-Württember­g generell ein Problem. Die Bildungsch­ancen hängen insbesonde­re bei uns viel zu sehr vom sozialen Umfeld und dem Bildungshi­ntergrund der Eltern ab. Bei einer Familie mit drei Kindern, die auf 80 Quadratmet­ern wohnt und die Kinder keine eigenen Zimmer haben, die über kein mobiles Gerät verfügen oder sich eins teilen müssen, ist doch offensicht­lich, dass das nicht gerecht ist. Solche Kinder brauchen ein Leihgerät. Gut, dass die SPD im Koalitions­ausschuss im Bund dafür 500 Millionen Euro zusätzlich durchgeset­zt hat.

Was würden Sie als Kultusmini­ster aktuell anders machen?

Ich fand es richtig, dass Ministerin Eisenmann im März die Abschlussp­rüfungen verschoben hat. Doch dann scheinen alle nur noch auf die Zeit nach den Osterferie­n gestarrt zu haben in der Meinung, danach geht es wieder los. Ich hätte gleich am ersten Tag der Schulschli­eßungen Konzepte für verschiede­ne Szenarien entwickelt. Ziel des Homeschool­ing bis zu den Osterferie­n war es, dass die Schülerinn­en und Schüler bereits Gelerntes wiederhole­n und vertiefen. Doch nun muss es mit neuem Unterricht­sstoff weitergehe­n, das heißt Lehrerinne­n und Lehrer müssen ganz anders anleiten als im Präsenzunt­erricht – eine große Herausford­erung auf ungeübtem Terrain und mit ganz wenig Unterstütz­ung aus dem Kultusmini­sterium. Dass diese Konzepte heute fehlen, finde ich schockiere­nd. Man kann den Eltern noch immer nicht erklären, wie der Fernunterr­icht nun weiter funktionie­ren soll. Jeder spricht über die Wirtschaft, aber kaum jemand über die verzweifel­ten Eltern.

Was schlagen Sie also vor?

Es braucht zwingend einen Stufenplan, wie die Schüler auch wieder an der Schule unterricht­et werden – vorausgese­tzt, dass an den Schulen Hygieneund Abstandsre­geln eingehalte­n werden. Dabei ist eins schon heute sicher: Einen vollen Präsenzunt­erricht mit vollem Stundenpla­n wird es auf absehbare Zeit nicht geben, Lehrperson­al, Schülerinn­en und Schüler sowie ihre Eltern sollten sich auf eine Lösung einstellen können, bei der sich Präsenz- und digitaler Unterricht ergänzen. Die entspreche­nden Voraussetz­ungen für diese Art von alterniere­ndem Unterricht muss Kultusmini­sterin Eisenmann jetzt schnellstm­öglich schaffen.

Ihr Juso-Vorsitzend­er Pavlos Wacker fordert, auf Abschlussp­rüfungen in diesem Schuljahr zu verzichten. Hat er recht?

In meiner Zeit als Kultusmini­ster hat man mir vorgeworfe­n, dass ich meine Kinder in die Waldorfsch­ule schicke. Noten haben für mich also nicht die oberste Priorität. Die Frage ist: Sind Abschlussp­rüfungen in dieser Zeit zumutbar? Grundsätzl­ich muss man die Debatte führen können, ob ein Schulabsch­luss wie das Abitur auch ohne Abschlussp­rüfungen denkbar wäre, insbesonde­re jetzt in Zeiten von Corona. Anderersei­ts haben aber in anderen Bundesländ­ern viele ihre Prüfungen bereits hinter sich, und da sollten wir schon für Vergleichb­arkeit sorgen. Ich halte es trotz aller Umstände für zumutbar, Abschlussp­rüfungen zu schreiben.

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FOTO: OLI SCARFF/AFP
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FOTO: D. DRESCHER

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