Schwäbische Zeitung (Biberach)
So knapp stand Rupersthofen vor der Zerstörung
Zeitzeugen erinnern sich an das Ende des Zweiten Weltkriegs
RUPERTSHOFEN (sz) - Alma Miehle hat die letzten Kriegstage als Sechsjährige in Rupertshofen miterlebt. Sie hat mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen. „Wie bei einem Mosaik reihte sich Aussage an Aussage, und es entstand ein klares Bild“, erzählt sie. Hier ein Ausschnitt aus ihrem Bericht.
In Rupertshofen spitzte sich die Lage am Morgen des 24. April 1945 zu. Gegen zehn Uhr kam Leo Baur angelaufen und schrie: „Von Sauggart her kommet d’Franzose.“Tatsächlich war auch das Geräusch der Panzer schon zu hören. Nach kurzen Begegnungen mit fremden Truppen erfolgte die Belagerung Rupertshofens durch die Kompanie des Hauptmanns Dubrell am 4. Mai 1945. Hauptmann Dubrell ließ umgehend eine Menge Befehle erteilen. Als Erstes musste die Schule samt Rathaus geräumt und der Kommandantur zur Verfügung gestellt werden. Ein auf Deutsch und Französisch verfasstes Schriftstück „Bekanntmachung“mit Ge- und Verboten musste jeweils vom Haushaltsvorstand unterschrieben werden. Die Drohung machte Angst: „Falls einem französischen Soldaten etwas passiert, wird das Dorf zusammengeschossen.“
Unbedingt notwendige Gänge, wie zum Beispiel in die Molke, durften nur mit Passierschein erledigt werden. Ab Anbruch der Dunkelheit bestand Ausgehverbot. An jeder Haustüre musste ein Zettel Aufschluss über die sich im Haus befindlichen Männer im Alter zwischen 50 und 60 Jahren geben. Ehemalige Soldaten hatten sich bei der Kommandantur zu stellen. Diejenigen, die keinen Entlassungsschein vorweisen konnten, wurden festgenommen. So zum Beispiel Karl Ströbele junior und Karl Schmidberger.
In der Nacht zum Sonntag, 6. Mai, saß Karl Ströbele als einziger Gefangener in der Arrestzelle. Er hörte, wie draußen die Belagerer stritten und es unter ihnen zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Eine Maschinenpistolensalve erschreckte gegen sechs Uhr morgens ihn und die Anwohner des Orts. Im Hof von Anna Mohr war ein Franzose erschossen worden. Vermutlich war der Marokkaner der Täter, der kurz darauf an der Schule standrechtlich erschossen wurde. Die Magd Theresia Schefold, die in der Nähe vom Tatort ihr Zimmer hatte, bezeugte es und blieb trotz Androhung bei der Aussage: „Aus euren Reihen ist geschossen worden, ich habe gesehen, wie ein Schwarzer weggerannt ist.“Im Schulraum wurden die beiden Toten in von Schreiner Mohr gefertigten Särgen aufgebahrt.
Am Sonntagmorgen stürmten zwei Franzosen das Haus meiner Eltern, durchsuchten es nach Waffen. Während mein Vater unter Peitschenhieben gedrängt wurde, die geforderten Wehrpässe zu holen, hielt ein anderer Soldat Mutter und uns Kinder mit dem Gewehr in Schach. Nach Einsicht
der Pässe, aus denen hervorging, dass Vater in beiden Weltkriegen gegen Frankreich gekämpft hatte, wurde ihre Wut erst recht entfacht. Es gab kein Pardon, er wurde verhaftet und musste mit. Etwa 30 Männer aus Rupertshofen und anderen Ortschaften wurden abgeholt und in die denkbar schlechtesten Keller im Ort gesperrt. Sie wurden schikaniert, mit der Reitpeitsche den Keller rauf und runter getrieben und mussten sinnlose Arbeiten verrichten.
Am Sonntagmittag veranlassten die Belagerer, dass die Hälfte der Einwohner ihre Häuser verlassen sollte. Schweren Herzens rafften die Leute das Notwendigste zusammen und luden es auf bereitgestellte Wagen. In der Ungewissheit, was kommen würde, trieben einige noch ihr Vieh aus den Ställen. Ganze Familien sah man mit Kuh- oder Pferdegespannen die
Ortschaft verlassen, um bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf zu suchen. Die Bitte, wenigstens die Kirche zu schonen, wurde abgeschlagen. Schließlich machten die Franzosen die Zerstörung Rupertshofens davon abhängig, ob ihnen bis Sonntagabend 100 000 Reichsmark zur Verfügung stünden. Der Bürgermeister ging von Haus zu Haus, um Bargeld zu erbetteln. Obwohl jeder Bürger sein Letztes gab, eine Frau sich sogar von ihren Goldmünzen trennte, konnte die geforderte Summe bei Weitem nicht erreicht werden. Daraufhin fuhr der stellvertretende Bürgermeister Karl Ströbele senior unter Lebensgefahr mit dem Fahrrad nach Biberach und bekam von den dortigen Geschäftsleuten nochmals 60 000 Reichsmark dazu. Der noch fehlende Betrag kam von der Gemeinde Attenweiler.
Am Montag, 7. Mai, war das Kriegsende in Sicht. Obwohl die Geldforderungen erfüllt worden waren, hielten sich die Belagerer nicht an ihr Versprechen. Unter allen Umständen musste jetzt ein Schuldiger gefunden werden, der für den Tod des französischen Soldaten zu büßen hatte. Ein Standgericht sollte per Schnellverfahren den Täter finden. Dazu wurde vor dem Haus Maria Ege ein Tisch aufgestellt. Unter strengster Bewachung wurden die Männer aus ihren Verliesen geholt. Ein Doktor, der schon am Tatort den Toten untersucht hatte, versicherte nochmals, dass es sich um französische Kugeln handelte, die den Tod des Soldaten verursacht hatten. Schließlich durften etwa zehn Männer abtreten. Die restlichen 20 wurden der Reihe nach bei Trabers Stadel an die Wand gestellt. Panzer und Maschinenpistolen
waren abschussbereit auf sie gerichtet. Ständiger Funkkontakt mit dem Oberkommando in Oberstadion vereitelte in letzter Minute, dass Dubrells Leute den Abzug betätigten und unschuldige Männer ihr Leben ließen. Von dort kam der Befehl: „Ab in Arrest!“
Sie wurden zum Spritzenhaus dirigiert, wo sich der Arrest befand. Es war unmöglich, in diesem Raum 20 Leute unterzubringen. Um sich davon zu überzeugen, ging zuerst ein Wachposten, dann auch der zweite hinein. Einer der Gefangenen nutze die Gelegenheit, nahm in Richtung Baindt Reißaus und lief um sein Leben. Obwohl beide Wachen sofort die Verfolgung aufnahmen, blieb er verschwunden.
Nervös geworden, trieben die Bewacher die Gefangenen wieder zurück zur Kommandantur. Dort kam es mit dem Vorgesetzten zu Auseinandersetzungen, galt es doch den Abgang eines Gefangenen zu rechtfertigen. Schließlich wurden sie alle auf einen Lastwagen verfrachtet. Darunter waren sechs Männer aus Rupertshofen: Alfons Seif, Karl Ehringer, Karl Schmidberger, Karl Ströbele junior., Vitus Maurer und Franz Schefold.
Es fing an zu regnen. Als einer der Gefangenen sich aus dem Wagen beugte, um Wasser zu trinken, das sich in der aufgerollten Plane angesammelt hatte, wurde dies als Fluchtversuch gedeutet. Kurzerhand schoss ein Franzose in den Wagen. Mit einem Beinschuss kamen Vitus Maurer und Karl Ströbele noch glimpflich davon, während ein anderer im Wagen, dessen Name unbekannt ist, an den Folgen der Schüsse im Biberacher Krankenhaus, wohin auch die beiden anderen gebracht wurden, verstarb.
Am 8. Mai morgens gegen fünf Uhr ließen fahrende Panzer und Lastwagen wissen, dass der Spuk zu Ende und die Ortschaft befreit war. Die sechs Rupertshofer hatten Glück, denn nach Stationen im Krankenhaus und Lagern in Oberstadion und Biberach waren sie Wochen später alle wieder daheim.