Schwäbische Zeitung (Biberach)
Der Preis der Krise
Bund, Ländern und Gemeinden könnten allein in diesem Jahr 100 Milliarden Euro fehlen
BERLIN - Dass die goldenen Jahre der gesetzlichen Krankenkassen, wo angesichts einer guten Konjunktur mit steigenden Beschäftigtenzahlen und höheren Löhnen riesige Überschüsse anfielen, zu Ende gehen, war ihnen schon vor Corona klar. Ein wichtiger Grund sind diverse Gesetze von Minister Jens Spahn (CDU), der das Gesundheitswesen für Patienten und Personal attraktiver machen will. Allein zwei davon, das Terminserviceund Versorgungsgesetz sowie das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, sorgen nach Angaben von Doris Pfeiffer, Vorstandschefin des GKVSpitzenverbandes, der Dachorganisation aller 105 Kassen, für Mehrausgaben von jährlich fünf Milliarden Euro – dauerhaft.
Nun hat Corona alles noch gründlich verschlimmert. Ein in der Bundesrepublik nie gekannter wirtschaftlicher Absturz mit bis zu zehn Millionen Kurzarbeitern und steigender Arbeitslosigkeit führt zu massiven Einnahmeausfällen. Gleichzeitig fallen Corona-Sonderkosten an, etwa weil Kliniken dafür bezahlt werden, Betten für CoronaFälle frei zu halten. Oder weil politisch gewollt die Zahl der CoronaTests möglichst hoch sein soll. Zwar wurden gleichzeitig planbare Operationen verschoben. Sie dürften aber bald nachgeholt werden. Die Kassen gehen jedenfalls im laufenden Jahr von einem Minus von mehr als 14 Milliarden Euro aus.
Um die Kassen zahlungsfähig zu halten, bleiben nur zwei Möglichkeiten: Die Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber steigen – oder der Staat erhöht seinen Zuschüsse, ob aus Steuermitteln oder Schulden. Der Kassen-Gesamtbeitrag, der je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert wird, setzt sich zusammen aus dem allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent und dem Zusatzbeitrag.
Wie hoch letzterer ausfällt, legt die einzelne Kasse selbst fest. Er variiert nach Angaben des Verbandes der Ersatzkassen in diesem Jahr zwischen 0 und 2,7 Prozent, im Schnitt ist ein Prozent fällig. Dieser Durchschnitt aber, fürchten die Kassen, könnte sich angesichts der aktuellen Entwicklung verdoppeln. Das wäre in Zeiten, in denen viele Firmen und Beschäftigte sowieso in finanziellen Nöten stecken, absolut kontraproduktiv. Kaufkraft und Konjunktur würden zusätzlich abgewürgt.
Um das verhindern, kann der Bundeszuschuss erhöht werden. Was der Staat zuschießt, war jahrelang höchst unterschiedlich: 2008 etwa nur 2,5 Milliarden Euro. In Folge der Finanzkrise dann 2009 schon 7,2
Milliarden und 2010 bereits 15,7 Milliarden Euro. Seit 2017 wirft der Bund pro Jahr konstant 14,5 Milliarden Euro in den großen Topf namens Gesundheitsfonds, der auch die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sammelt und nach bestimmten Kriterien an die Kassen verteilt. Wenn der Zuschuss jetzt deutlich steigt, hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) ein weiteres Problem.
Denn gleichzeitig muss er nicht nur riesige Hilfsprogramme finanzieren, sondern auch dramatische Einbrüche der Steuereinnahmen verkraften. Allein in diesem Jahr könnten Bund, Ländern und Gemeinden
100 Milliarden Euro fehlen, wird vor der neuen Steuerschätzung spekuliert, deren Ergebnisse Scholz am Donnerstag bekannt gibt. Bis 2024 könnten ihre Einnahmen gegenüber der letzten Schätzung vor sechs Monaten um insgesamt rund 300 Milliarden Euro niedriger ausfallen.
Die Größenordnung hält Martin Beznoska vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für richtig. Vor gut vier Wochen hatte er nur mit gut 80 Milliarden Euro gerechnet. Doch der Shutdown wird langsamer gelockert als erwartet. Nach der üblichen Verteilung der Steuereinnahmen dürften die 100 Milliarden Euro in diesem Jahr zu jeweils 40 Prozent auf Kosten von Bund und Länder gehen, der Rest zulasten der Städte und Gemeinden. Dem Bund würden also 40 Milliarden Euro fehlen. Zu einem erheblichen Teil hat Scholz schon vorgesorgt: Im Nachtragshaushalt, den der Bundestag im März beschlossen hatte, sind bereits 33,5 Milliarden berücksichtigt.
Insbesondere die Körperschaftsteuer dürfte in diesem Jahr stark einbrechen, weil viele Unternehmen hohe Verluste machen und diese mit Gewinnen früherer Jahre verrechnen sowie Vorauszahlungen zurückholen können. Aber auch die Lohn- und die Mehrwertsteuer dürften deutlich weniger bringen als erwartet.