Schwäbische Zeitung (Biberach)
Der doppelte Eurovision-Ersatz-Contest
Weil in Rotterdam coronabedingt niemand im ESC singt, buhlen ARD und ProSieben mit Alternativformaten um Quote
HAMBURG/KÖLN (dpa) - Es gab eine Zeit, in der man Stefan Raab fast alles zugetraut hätte, und diese Zeit hatte viel mit dem Eurovision Song Contest zu tun. Sie war ziemlich genau 2010. Unter der Ägide des einstigen Metzgerlehrlings gewann damals eine junge Frau namens Lena Meyer-Landrut den ESC – und rettete die Ehre der jahrelang chronisch gescheiterten Musiknation Deutschland. Für diesen Samstag hat sich Stefan Raab wieder so eine Rettungsmission vorgenommen. Diesmal aber geht es nicht nur um ein Land – sondern gleich um den ganzen Wettbewerb. Und noch schwieriger: um das ESC-Gefühl.
Der Grund: Der Eurovision Song Contest, der an diesem Tag in Rotterdam hätte stattfinden sollen, fällt wegen der Corona-Pandemie aus, was für alle ESC-Fans ein Jammer ist. Perlwein und Mettigel waren im Geiste ja schon kalt gestellt. Um den Schmerz etwas zu lindern, nehmen nun an besagtem 16. Mai sowohl der ESC-Sender ARD als auch ProSieben – maßgeblich betrieben von Stefan Raab – Ersatz ins Programm. Im Ersten wird in einem nationalen Finale ein „Sieger der Herzen“gekürt. ProSieben baut den Wettbewerb in alternativer Form nach – und nennt ihn „Free European Song Contest“. Zu den Fakten:
In der ARD-Show „Eurovision Song Contest 2020 – das deutsche Finale“(20.15 Uhr) treten zehn der eigentlichen diesjährigen ESC-Teilnehmer gegeneinander an. Einige sollen sogar live auf der Bühne stehen, wenn auch vor leeren Rängen. Die Startplätze wurden am vergangenen Samstag
in einer eigenen Show von den Zuschauern vergeben – mit dabei sind unter anderem Island, Russland, Schweden, Italien und die Schweiz.
Auch Ben Dolic, der – manch einer wird es nicht gewusst haben – für Deutschland ins Rennen gegangen wäre, singt sein Lied „Violent Thing“. Bei der Kür des „deutschen Siegers der Herzen“steht er allerdings nicht zur Wahl. Präsentiert wird die Show aus der Hamburger Elbphilharmonie von Barbara Schöneberger.
Im Anschluss (21.55 Uhr) zeigt das Erste dann die internationale ErsatzShow „Europe Shine A Light“aus dem niederländischen Hilversum, die Klubbb3-Sänger Jan Smit mitmoderiert. Dabei werden die Künstler geehrt, denen Corona den ESC-Auftritt verwehrt hat. Ein Voting gibt es nicht.
Auf einem anderen Knopf der Fernbedienung werden sich parallel Conchita Wurst und Steven Gätjen darum bemühen, Deutschland in ESC-Stimmung zu bringen. Die beiden präsentieren live aus Köln den „Free European Song Contest“(20.15 Uhr) von ProSieben. Dort gehen mindestens 15 Länder ins Rennen, von Kasachstan über Israel bis Großbritannien – auch Deutschland. Vertreten werden die Nationen von prominenten Musikern, deren Namen aber zunächst noch geheim blieben. Wie Conchita Wurst verriet, sollen es aber Künstler sein, die in Deutschland leben und einen Bezug zu den Teilnehmerländern haben.
Am Ende wird – ganz klassisch – quer durch Europa geschaltet, um die Punkte einzusammeln. In Deutschland, Österreich und der Schweiz werden diese per Zuschauervoting vergeben. In den anderen Ländern vergibt eine Art Jury die Wertung.
Die Idee kam nach Angaben von ProSieben originär von Stefan Raab, der sich vor Jahren vom Bildschirm zurückgezogen hat. Er tritt als Produzent auf. „Stefan sprüht vor Ideen, und wir alle wissen, dass er einen ausgezeichneten Musikgeschmack hat und weiß, wie man gutes Fernsehen macht“, sagt Conchita Wurst, die den ESC 2014 selbst gewonnen hat. „Außerdem ist er ESC-Spezialist, deshalb war es ja ganz naheliegend, dass er eine Show auf die Beine stellt, als bekannt wurde, dass es dieses Jahr keinen ESC geben würde.“Oder kurz: „Wer, wenn nicht er?“
Bei Fans muss der „#FreeESC“wohl aber noch etwas Überzeugungsarbeit leisten. Auf die Show aus Hamburg sei man schon ganz gespannt, gibt Michael Sonneck, Präsident des Eurovision Club Germany, zu Protokoll. Und die Raab-Show? Nun ja: „Abgesehen von der Tatsache, dass Conchita mitmoderiert, hat das mit dem ESC gar nichts zu tun“, wettert Sonneck. „Das interessiert mich nicht die Bohne, auch wenn ich es mir wohl aufnehmen und irgendwann mal ansehen werde.“Ob der ESC-Edelfan da nicht Gefahr läuft, womöglich eine Sensation zu verpassen? Man könnte ja zumindest auf den Gedanken kommen, dass Stefan Raab auch mal durchs Bild läuft. „Stefan Raab produziert den ,#FreeESC‘“, stellt ProSieben da jedoch klar. „Seine Karriere vor der Kamera hat er 2015 beendet.“