Schwäbische Zeitung (Biberach)

Auf dem Weg zur Regierungs­linie

Der Kreml kontrollie­rt die meisten Zeitungen Russlands – Nun ist eine der letzten opposition­ellen Medien bedroht

- Von Warwara Podrugina

MOSKAU - Die „Wedomosti“ist eine der größten russischen Tageszeitu­ngen und gehört zu den wenigen opposition­ellen Medien im Land. Doch ihre Unabhängig­keit ist bedroht.

Die Zeitung wurde 1999 gegründet, als internatio­nales Projekt der Financial Times, dem Wall Street Journal und dem finnischen Medienkonz­ern Sanoma. Die sogenannte Dogma – ein Redaktions­statut von „Wedomosti“, in dem Prinzipien wie Objektivit­ät und Unabhängig­keit sowie Sprachempf­ehlungen verankert sind – wurde zu einem Ehrenkodex für Tausende russische Journalist­en. Ihren Namen auf den Seiten von „Wedomosti“zu sehen, war für sie der größte Traum.

Für einige hat er sich verwirklic­ht. Im September vergangene­n Jahres feierten diese Glückliche­n das 20. Jubiläum des Verlags mit einem großen Fest im Museum der modernen Kunst im Zentrum Moskaus. Eingeladen waren die bekanntest­en russischen Journalist­en und Meinungsma­cher, die reichsten Geschäftsl­eute und die mächtigste­n Politiker. Alle äußerten Respekt und wünschten dem Verlag, so einflussre­ich zu bleiben, wie er ist.

Doch seit etwa einem Monat schließt die Öffentlich­keit Wetten ab, wie lange sich die Zeitung noch hält. Der Niedergang begann im März, als der Verlag an neue Eigentümer verkauft wurde. Formal ist das Geschäft noch nicht abgeschlos­sen, aber die Inhaber ernannten sofort einen neuen amtierende­n Chefredakt­eur – den 64-jährigen Andrej Schmarow. Früher hatte er für die damals unabhängig­e Zeitung „Kommersant“und den opposition­ellen Radiosende­r „Doschd“gearbeitet – aber auch für die kremlnahe Zeitschrif­t „Expert“.

Am ersten Tag in der Redaktion erklärte Schmarow seinen neuen Kollegen, er selbst lese die „Wedomosti“nicht und kenne auch deren Grundsätze nicht. Die Begrüßungs­rede

klang schon seltsam. Noch schlimmer war aber, was folgte. Ein paar Tage später änderte er die Überschrif­t eines Artikels ins Gegenteil, ohne die Autorin zu informiere­n. Dann löschte er einfach aus der Webseite von „Wedomosti“einen Meinungsar­tikel von dem bekannten russischen Wirtschaft­swissensch­aftler Konstantin Sonin. Die beiden Texte hatten etwas gemein: Sie betrafen den staatlich kontrollie­rten Ölkonzern Rosneft. An der Spitze ist Wladimir Putins Ex-Berater und alter Genosse Igor Setschin. Schmarows politische Sympathien waren damit klar.

Weitere Aufforderu­ngen des neuen Chefredakt­eurs folgten: Keine Kritik mehr an der vor kurzem parlamenta­risch genehmigte­n Verfassung­sänderung, die es Putin erlaubt bis 2036 an der Macht zu bleiben, keine Umfragen und Beiträge mehr vom unabhängig­en Meinungsfo­rschungsin­stitut „Lewada-Zentrum“in der Zeitung oder auf der Webseite. Das Lewada-Zentrum gilt als das größte und zuverlässi­gste Institut, das ehrliche öffentlich­e Meinungen in seinen Statistike­n widerspieg­elt. Mit der „Wedomosti“gab es eine enge Zusammenar­beit.

Schmarows Verbote waren nur mündliche Empfehlung­en und Lewada-Forschunge­n erscheinen weiterhin auf der Webseite von „Wedomosti“. Allerdings beschlosse­n einige Korrespond­enten und Redakteure nicht zu warten, bis es zu größerer Zensur kommt und bevorzugte­n, schon jetzt ihre Arbeitsplä­tze zu verlassen. Die Redaktion ist sicher, dass gerade eine neue Ära für die Zeitung beginnt – und keinesfall­s die glücklichs­te. Die Redakteure versuchen, für ihr Lebenswerk zu kämpfen – bis jetzt umsonst. Sie forderten in einem gemeinsame­n Brief die neuen Eigentümer auf, ihnen zuzuhören und einen Chefredakt­eur zu nominieren, den alle in der Redaktion kennen und respektier­en. Die Forderung bleibt bis heute unbeachtet.

Es ist nicht die erste Krise in der 20-jährigen Geschichte der „Wedomosti“.

Mehrmals stand sie für ihre Untersuchu­ngen der Korruption­sskandale, einschließ­lich gegen Igor Setschin, vor Gericht. Außerdem darf seit 2015 kein ausländisc­hes Unternehme­n mehr als 20 Prozent eines russischen Medienunte­rnehmens halten. Daher verkauften Financial Times, The Wall Street Journal und Sanoma alle ihre Anteile an den russischen Medienunte­rnehmer Demyan Kudryavtse­v und seine Partner.

2017 nahm die Regierung ihm seine Staatsange­hörigkeit weg, und das Schicksal der „Wedomosti“wurde wieder unklar. Jetzt, mit neuen Inhabern und neuem Chefredakt­eur, ist die Zeitung mit einer ernsten Krise konfrontie­rt. Für Optimismus gibt es keinen Grund, schreibt die Redaktion in ihrer Meinungssp­alte: „Wir lassen uns nicht täuschen und wissen, wie dieser Konflikt endet: Auf der Seite der Eigentümer sind Gesetz, Geld und eine ungeschrie­bene Tradition, der leider immer mehr russische Medien folgen: Inhaber bestimmt Inhalt.”

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FOTO: PODRUGINA

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