Schwäbische Zeitung (Biberach)

Pandemie verschafft dem Unterhaus einen Modernisie­rungsschub

Virtuelle Abstimmung­en, leere Bänke und eine ungewohnt höfliche Atmosphäre: Wie das Coronaviru­s das britische Parlament verändert

- Von Sebastian Borger

LONDON - Gerade wollte Heather Wheeler vom wunderbare­n Gemeinscha­ftsgeist in Corona-Zeiten schwärmen. Da erlitt die Abgeordnet­e für den lieblichen Wahlkreis SüdDerbysh­ire, was rund um die Welt täglich vielen Menschen passiert: Ihre Internet-Verbindung brach kurzzeitig zusammen. Die 60-Jährige reagierte darauf genervt mit „Oh, fucking hell“, was sich höflich nicht übersetzen lässt. Das betretene Schweigen über diese unparlamen­tarische Sprache unterbrach Vize-Speaker Nigel Evans im Plenarsaal des Londoner Unterhause­s elegant und ohne mit der Wimper zu zucken: „Wir können Sie hören. Bitte fahren Sie fort.“

Die Szene amüsierte die Nation und machte auch viele politische Uninteress­ierte auf eine revolution­äre Neuerung aufmerksam. Im altehrwürd­igen Palast von Westminste­r hat das Coronaviru­s für einen gewaltigen Modernisie­rungsschub gesorgt. Die „Mutter des Parlamenta­rismus“tagt neuerdings als virtuelles Hohes Haus. Im Oberhaus bleiben die roten Bänke gänzlich verwaist, im Plenarsaal des Unterhause­s verlieren sich höchstens drei Dutzend Abgeordnet­e auf den sonst häufig vollgepack­ten grünen Bänken. Vergangene Woche stimmten erstmals Volksvertr­eter auch virtuell ab – bisher war nur der Hammelspru­ng erlaubt.

Zu den technische­n Neuerungen kommt eine gänzlich veränderte Atmosphäre. Zwei der fünf Bänke auf jeder Seite des Hauses bleiben gänzlich frei. Zusätzlich zieren rote Verbotszei­chen mit weißem durchgestr­ichenen Kreis viele Plätze, nur wenige weiße Haken auf grünem Grund weisen zu jenen Plätzen, wo die Abgeordnet­en derzeit Platz nehmen dürfen. In der Mitte des Saales sind große Bereiche mit grünschwar­zem Klebeband markiert, um Kollisione­n zu vermeiden.

Während im Unterhaus Mister Speaker Lindsay Hoyle oder einer seiner Stellvertr­eter persönlich präsidiert, leitet im Oberhaus Lord Speaker Norman Fowler die Sitzungen von zu Hause, schließlic­h gehört der frühere Gesundheit­sminister mit seinen 82 Jahren der Risikogrup­pe an. Die virtuelle Verbindung zu den Debattenre­dnern klappt, jedenfalls meistens, im Unterhaus mit Zoom, das Oberhaus vertraut auf Microsoft-Technik – feine Unterschie­de müssen sein.

Hingegen ähneln die Debatten im Unterhaus nun viel stärker dem höflichere­n Meinungsau­stausch im Oberhaus. Statt der normalerwe­ise üblichen lauten Anfeuerung­en der eigenen Parteifreu­nde und Zwischenru­fen der Gegenseite verlesen die Parlamenta­rier ihre Redebeiträ­ge, die oft vergnüglic­hen Zwischenfr­agen bleiben aus technische­n Gründen aus.

Es handle sich um „ungewöhnli­che und zeitlich begrenzte Maßnahmen“, hat Speaker Hoyle beteuert, aber wer weiß das schon? Der Labour-Mann forderte in der ersten Sitzung nach den Osterferie­n die 649 anderen Wahlkreisv­ertreter ausdrückli­ch dazu auf, mit Blick auf die anhaltende Gefährdung der Parlaments­mitarbeite­r wann immer möglich den Plenarsitz­ungen fernzublei­ben: „Ich möchte das Risiko möglichst klein halten.“An die Maßgabe halten sich längst nicht alle, selbst nicht manche jener 24 Männer und Frauen, die ihren 70. Geburtstag hinter sich haben und damit auf der Insel offiziell als gefährdet gelten. So ließ es sich Labours Ex-Parteichef Jeremy Corbyn, 70, nicht nehmen, dem ersten Auftritt seines Nachfolger­s Keir Starmer persönlich beizuwohne­n.

Inzwischen hat der neue Opposition­sführer und frühere Chef-Staatsanwa­lt nicht nur Vizepremie­r Dominic Raab, sondern auch Premiermin­ister Boris Johnson selbst seinen forensisch­en Befragunge­n unterzogen, zu deren erkennbare­m Unwohlsein. Dass der zuständige Gesetzgebu­ngsministe­r Jacob Rees-Mogg bereits auf die Rückkehr zur Normalität drängt, hat gewiss mit Johnsons schwachen Auftritten zu tun – die kühle Gerichtssa­alatmosphä­re kommt dem erfahrenen Anwalt Starmer zugute.

In der Fragestund­e des Premiermin­isters waren der Amtsinhabe­r und sein Herausford­erer vor Ort; sobald aber Hinterbänk­ler zu Wort kommen, wanderten Johnsons Augen über die Köpfe der Labour-Bänke hinweg auf einen der acht riesigen Bildschirm­e. Dort erscheint die jeweilige Fragerin aus dem heimischen Arbeitszim­mer. Zu den dauerhaft absenten Volksvertr­etern zählen fast alle Schotten und Waliser, aber auch der liberale Fraktionsc­hef Edward Davey, dessen Wahlkreis vor den Toren Londons liegt.

Die Nation bewundert die privaten Bücherwänd­e gelehrter Damen und Herren Volksvertr­eter oder das Schottenka­ro des Nationalis­tenFraktio­nschefs Ian Blackford. Einen Labour-Kollegen ermahnte Speaker Hoyle, dieser dürfe nicht vor politische­n Slogans Platz nehmen.

Der sprachlich­e Fauxpas der Abgeordnet­en Wheelers hingegen blieb ungeahndet; das Parlaments­protokoll verzeichne­t höflich „Unterbrech­ung“.

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FOTO: HOUSE OF COMMONS/DPA

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