Schwäbische Zeitung (Biberach)
Pandemie verschafft dem Unterhaus einen Modernisierungsschub
Virtuelle Abstimmungen, leere Bänke und eine ungewohnt höfliche Atmosphäre: Wie das Coronavirus das britische Parlament verändert
LONDON - Gerade wollte Heather Wheeler vom wunderbaren Gemeinschaftsgeist in Corona-Zeiten schwärmen. Da erlitt die Abgeordnete für den lieblichen Wahlkreis SüdDerbyshire, was rund um die Welt täglich vielen Menschen passiert: Ihre Internet-Verbindung brach kurzzeitig zusammen. Die 60-Jährige reagierte darauf genervt mit „Oh, fucking hell“, was sich höflich nicht übersetzen lässt. Das betretene Schweigen über diese unparlamentarische Sprache unterbrach Vize-Speaker Nigel Evans im Plenarsaal des Londoner Unterhauses elegant und ohne mit der Wimper zu zucken: „Wir können Sie hören. Bitte fahren Sie fort.“
Die Szene amüsierte die Nation und machte auch viele politische Uninteressierte auf eine revolutionäre Neuerung aufmerksam. Im altehrwürdigen Palast von Westminster hat das Coronavirus für einen gewaltigen Modernisierungsschub gesorgt. Die „Mutter des Parlamentarismus“tagt neuerdings als virtuelles Hohes Haus. Im Oberhaus bleiben die roten Bänke gänzlich verwaist, im Plenarsaal des Unterhauses verlieren sich höchstens drei Dutzend Abgeordnete auf den sonst häufig vollgepackten grünen Bänken. Vergangene Woche stimmten erstmals Volksvertreter auch virtuell ab – bisher war nur der Hammelsprung erlaubt.
Zu den technischen Neuerungen kommt eine gänzlich veränderte Atmosphäre. Zwei der fünf Bänke auf jeder Seite des Hauses bleiben gänzlich frei. Zusätzlich zieren rote Verbotszeichen mit weißem durchgestrichenen Kreis viele Plätze, nur wenige weiße Haken auf grünem Grund weisen zu jenen Plätzen, wo die Abgeordneten derzeit Platz nehmen dürfen. In der Mitte des Saales sind große Bereiche mit grünschwarzem Klebeband markiert, um Kollisionen zu vermeiden.
Während im Unterhaus Mister Speaker Lindsay Hoyle oder einer seiner Stellvertreter persönlich präsidiert, leitet im Oberhaus Lord Speaker Norman Fowler die Sitzungen von zu Hause, schließlich gehört der frühere Gesundheitsminister mit seinen 82 Jahren der Risikogruppe an. Die virtuelle Verbindung zu den Debattenrednern klappt, jedenfalls meistens, im Unterhaus mit Zoom, das Oberhaus vertraut auf Microsoft-Technik – feine Unterschiede müssen sein.
Hingegen ähneln die Debatten im Unterhaus nun viel stärker dem höflicheren Meinungsaustausch im Oberhaus. Statt der normalerweise üblichen lauten Anfeuerungen der eigenen Parteifreunde und Zwischenrufen der Gegenseite verlesen die Parlamentarier ihre Redebeiträge, die oft vergnüglichen Zwischenfragen bleiben aus technischen Gründen aus.
Es handle sich um „ungewöhnliche und zeitlich begrenzte Maßnahmen“, hat Speaker Hoyle beteuert, aber wer weiß das schon? Der Labour-Mann forderte in der ersten Sitzung nach den Osterferien die 649 anderen Wahlkreisvertreter ausdrücklich dazu auf, mit Blick auf die anhaltende Gefährdung der Parlamentsmitarbeiter wann immer möglich den Plenarsitzungen fernzubleiben: „Ich möchte das Risiko möglichst klein halten.“An die Maßgabe halten sich längst nicht alle, selbst nicht manche jener 24 Männer und Frauen, die ihren 70. Geburtstag hinter sich haben und damit auf der Insel offiziell als gefährdet gelten. So ließ es sich Labours Ex-Parteichef Jeremy Corbyn, 70, nicht nehmen, dem ersten Auftritt seines Nachfolgers Keir Starmer persönlich beizuwohnen.
Inzwischen hat der neue Oppositionsführer und frühere Chef-Staatsanwalt nicht nur Vizepremier Dominic Raab, sondern auch Premierminister Boris Johnson selbst seinen forensischen Befragungen unterzogen, zu deren erkennbarem Unwohlsein. Dass der zuständige Gesetzgebungsminister Jacob Rees-Mogg bereits auf die Rückkehr zur Normalität drängt, hat gewiss mit Johnsons schwachen Auftritten zu tun – die kühle Gerichtssaalatmosphäre kommt dem erfahrenen Anwalt Starmer zugute.
In der Fragestunde des Premierministers waren der Amtsinhaber und sein Herausforderer vor Ort; sobald aber Hinterbänkler zu Wort kommen, wanderten Johnsons Augen über die Köpfe der Labour-Bänke hinweg auf einen der acht riesigen Bildschirme. Dort erscheint die jeweilige Fragerin aus dem heimischen Arbeitszimmer. Zu den dauerhaft absenten Volksvertretern zählen fast alle Schotten und Waliser, aber auch der liberale Fraktionschef Edward Davey, dessen Wahlkreis vor den Toren Londons liegt.
Die Nation bewundert die privaten Bücherwände gelehrter Damen und Herren Volksvertreter oder das Schottenkaro des NationalistenFraktionschefs Ian Blackford. Einen Labour-Kollegen ermahnte Speaker Hoyle, dieser dürfe nicht vor politischen Slogans Platz nehmen.
Der sprachliche Fauxpas der Abgeordneten Wheelers hingegen blieb ungeahndet; das Parlamentsprotokoll verzeichnet höflich „Unterbrechung“.