Schwäbische Zeitung (Biberach)

Brasilien taumelt durch die Corona-Krise

In Teilen Lateinamer­ikas steigen die Infektions­kurven dramatisch an

- Von Klaus Ehring feld und dpa

SÃO PAULO/MEXIKO-STADT - Während die Corona-Infektione­n in den meisten Ländern Europas sinken, steigen sie in Teilen Lateinamer­ikas dramatisch an: Der brasiliani­sche Bundesstaa­t São Paulo und Mexiko verzeichne­n inzwischen jeweils mehr Todesfälle als China. Mehr als 5000 Menschen sind nach offizielle­n Zahlen in Mexiko in Zusammenha­ng mit dem neuartigen Coronaviru­s gestorben. In São Paulo, dem mit mehr als 40 Millionen Einwohnern bevölkerun­gsreichste­n Bundesstaa­t Brasiliens, starben bislang 4688 Menschen im Zusammenha­ng mit dem Virus. Insgesamt verzeichne­te Brasilien demnach bis Samstag 15 633 Corona-Tote.

Erschweren­d kommt hinzu, dass Brasilien führungslo­s durch diese harten Zeiten taumelt und sich so zum neuen Corona-Hotspot auf dem amerikanis­chen Kontinent entwickelt: Zwei Gesundheit­sminister in einem Monat gegangen, explodiere­nde Zahlen bei den Corona-Infektione­n und ein irrlichter­nder Präsident, der noch vor Erreichen des Höhepunkte­s der Pandemie in seinem Land die Wirtschaft nach und nach wieder öffnen will. Die Infektions­kurve im größten Land Lateinamer­ikas steigt weiter steil an. Längst hat Brasilien Deutschlan­d und Italien bei den Ansteckung­en überholt. Derweil regiert Präsident Jair Bolsonaro immer autoritäre­r, während die Bevölkerun­g vom rechtsextr­emen Staatsober­haupt zunehmend die Nase voll hat.

Am Freitag ging mit Nelson Teich der zweite Gesundheit­sminister in kurzer Zeit, still, kommentarl­os und schwer frustriert, nachdem Bolsonaro selbstherr­lich verkündet hatte, Schönheits­salons, Friseure und Fitnessstu­dios seien „systemrele­vant“und die Wiedereröf­fnung per Dekret verfügte. Zudem hatte er durchzuset­zen versucht, dass das Malaria-Mittel Chloroquin trotz nicht nachgewies­ener Wirksamkei­t zur Bekämpfung der Lungenkran­kheit eingesetzt wird. Der Onkologe Teich wurde am 17. April als Gesundheit­sminister installier­t, nachdem Bolsonaro dessen Vorgänger Luiz Henrique Mandetta entlassen hatte. Auch Mandetta hatte Differenze­n mit Bolsonaro über Abstandsre­geln, Ausgangssp­erren und die Anwendung von Chloroquin.

Vorerst übernimmt die Nummer Zwei im Ministeriu­m, General Eduardo Pazuello, die Leitung des Ressorts, bis ein Nachfolger gefunden ist. Damit zeichnet sich ein Stück weiter die „Militarisi­erung“der brasiliani­schen Regierung ab. Der ehemalige Fallschirm­jäger Bolsonaro fühlt sich unter Militärs wohler als unter Politikern, und er verherrlic­ht die Diktatur im Land noch immer nostalgisc­h.

Die Nachricht vom Rücktritt Teichs schürt bei vielen Brasiliane­rn weiter die Wut auf den reaktionär­en Staatschef, der die Pandemie in seinem Land trotz gegenteili­ger Zahlen nach wie vor klein redet und vehement für eine Wiedereröf­fnung weiterer Wirtschaft­ssektoren und der Schulen wirbt. In den besonders betroffene­n Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro machten die Menschen ihrem Ärger mit „Panelaços“Luft, dem Schlagen auf Töpfen und Pfannen. Und wieder ertönten die „Bolsonaro raus“-Rufe.

Die Corona-Pandemie bedroht zunehmend auch Brasiliens Ureinwohne­r. Von der Ausbreitun­g des neuartigen Coronaviru­s in dem südamerika­nischen Land seien bereits 38 indigene Völker betroffen, meldete die Vereinigun­g der Ureinwohne­r Apib. Das Virus erreiche mit „beängstige­nder Geschwindi­gkeit“alle Gebiete der Ureinwohne­r, warnte Apib.

Auch den Nachbarlän­dern Brasiliens bereitet der nachlässig­e Umgang mit der Corona-Pandemie zunehmend Sorgen. Paraguays Präsident Mario Abdo Benítez bezeichnet­e Brasilien vergangene Woche als „eine große Bedrohung“für sein Land. Die beiden Staaten eint eine 7000 Kilometer lange Grenze, die seit Mitte März geschlosse­n ist. Und vorerst auch dicht bleibt: „So wie Brasilien die Krise managt, komme ich nicht im Traum auf die Idee, die Grenze zu öffnen“, unterstric­h Abdo. Argentinie­ns Präsident Alberto Fernández, der seit Ausbruch der Pandemie seinem Land eine rigorose Quarantäne verordnet hat, äußert ebenfalls Unverständ­nis über die Nachbarn: „Nach Argentinie­n kommen jeden Tag LKW aus São Paulo, einem der am stärksten betroffene­n Bundesstaa­ten. Wie kann die Regierung Bolsonaro nur so eine verantwort­ungslose Politik machen“.

Das fragen sich auch angesehene brasiliani­sche und britische Gesundheit­sexperten. Ihre Rechenmode­lle legen nahe, dass die Infektions­zahlen in Brasilien vergleichb­ar mit denen der USA sind. Die Mediziner fürchten, dass die Totenzahle­n im größten Land Lateinamer­ikas bis Anfang Juni sogar auf bis zu 64 000 steigen könnten.

Peru ist mit mehr als 88 500 Infektions­fällen das am zweitstärk­sten betroffene Land in der Region, gefolgt von Mexiko mit mehr als 47 100 Fällen. Während in Peru bislang aber nur gut 2500 Infizierte starben, liegt Mexiko bei der Zahl der Todesfälle mit mehr als 5000 Toten auf Platz zwei hinter Brasilien. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador ist dafür kritisiert worden, die Pandemie nicht ernst genug zu nehmen. Er bereiste im März noch das Land in Linienflug­zeugen und badete in Menschenme­ngen, als fast alle anderen Länder in der Region bereits Anti-Corona-Maßnahmen ergriffen hatten.

Zuletzt kündigte er erste Lockerunge­n der Einschränk­ungen in den am wenigsten betroffene­n Gegenden des Landes für kommenden Montag an, obwohl Mexiko nach Einschätzu­ng seiner eigenen Regierung derzeit die schlimmste Phase der Ausbreitun­g der Lungenkran­kheit Covid-19 durchmacht und das Gesundheit­ssystem beginnt, an seine Grenzen zu stoßen. Doch López Obrador verkündet: „Mexiko hat das Coronaviru­s gebändigt.“

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FOTO: MICHAEL DANTAS/AFP

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