Schwäbische Zeitung (Biberach)
44-Meter-Joch im Aulendorfer Bahnhof verbaut
Elektrifizierung der Südbahn schreitet voran – 813 Masten finden im aktuellen Bauabschnitt ihren Platz
AULENDORF - Löcher in die Erde bohren, Masten setzen, Leitungen einhängen: Die Bauarbeiten auf der Südbahnstrecke zwischen Aulendorf und Ravensburg schreiten voran. „Wir sind im Plan“, sagt Mario Atzler, Projektleiter bei der von der Deutschen Bahn beauftragten Firma Spitzke: 35 Jahre alt, Berliner Dialekt und ein gefragter Mann auf der Elektrifizierungsbaustelle. Denn ganz so simpel, wie es klingt, sind die Bauarbeiten für das Jahrhundertprojekt nicht. Im Gegenteil.
Atzler ist als gesamtverantwortlicher Projektleiter der Mann, bei dem die Fäden zum Bau der Oberleitungsanlage zusammenlaufen. Sein Job: Er koordiniert die Arbeiten von der Gründung über das Mastenstellen bis zum Oberleitungsbau. Natürlich in enger Zusammenarbeit mit den gewerkezuständigen Projekt- und Bauleitern.
„Ich bin quasi derjenige, der all diese Arbeiten nach Plan für die einzelnen Gewerke koordiniert und überwacht, Sperrpausen anmeldet sowie in Zusammenarbeit die Technik- und Personalplanung, aber auch die kaufmännische Abwicklung und die Besprechungen mit dem Auftraggeber, der Bahn, macht“, erklärt er, bevor er von den anstehenden Bauarbeiten berichtet.
Rund 70 Monteure sind dort an verschiedenen Stellen parallel im Einsatz. „Es läuft alles gut, aber klar, Kleinigkeiten gibt es immer.“Und dann gibt es da ja noch Corona, was für die Elektrifizierungsbaustelle, wenn auch nicht spurlos, aber bislang ohne Konsequenzen blieb. „Toi, toi, toi, dass wir hier noch keine Fälle hatten, sonst wäre es kritischer geworden, wenn wir hätten Leute in Quarantäne schicken müssen“, sagt Atzler mit Blick auf den eng getakteten Zeitplan. Ansonsten trage man den Corona-Anforderungen Rechnung, indem man etwa die Arbeitskolonnen getrennt habe, zusätzliche Baustellenfahrzeuge einsetze und Desinfektionsmittel verteilt wurde.
Einigermaßen entspannt unterwegs sein kann der Projektleiter auch, weil auf dem Streckenabschnitt seit März schon viel geschafft wurde. Die lärmintensiven Ramm- und Bohrarbeiten sind abgeschlossen, Ende nächster Woche sollen alle 813 Masten gesetzt sein – 127 davon allein im Aulendorfer Bahnhof. Dort ging vor knapp zwei Wochen auch eine der größeren Herausforderungen dieses Bauabschnitts über die Bühne. In Jochbauweise wurde der längste Metallträger über die Gleise verbaut: „44 Meter lang – von Bahnsteig zwei bis ganz nach außen“, berichtet Atzler.
Auch die tatsächlichen Oberleitungsarbeiten – sie finden in mehreren Arbeitsschritten statt – sind an einigen Stellen bereits weit fortgeschritten. Derzeit arbeiten sich die Monteure mit dem Tragseil und dem Fahrdraht auf dem Abschnitt Niederbiegen-Mochenwangen voran. Dieses sogenannte Kettenwerk ist quasi das Herzstück der Elektrifizierung, bringt es doch den Strom zum Zug, der über einen Bügel auf seinem Dach mit dem Fahrdraht in Kontakt steht.
Außerdem sind mit der Schenkenwaldund der Rugetsweiler Brücke auch bereits die beiden Brücken verschwunden, die zu niedrig für die Elektrifizierung der Bahnlinie waren. Letztere allerdings wird wieder aufgebaut – Atzler sieht das gelassen: „Wir bauen unser Kettenwerk bereits vorher auf, bevor der neue Brückenüberbau obendrüber gesetzt wird.“Solange dort alles nach Zeitplan läuft, tangiert es den Oberleitungsbau nicht.
Spannender sind ein paar Kilometer hinter Aulendorf die beiden Stellen, wo die Bahnlinie die Schussen überquert. Dort liegen im Moment nur Behelfsüberführungen. Die neuen Eisenbahnbrücken werden erst gebaut, wenn die Oberleitungen bereits entlanggezogen sind. „Das Kettenwerk müssen wir dort dann nochmals verschwenken“, sagt Atzler. Aber vor allem in den Bahnhöfen hat es der Oberleitungsbau in sich, nicht nur, weil Fahrdraht und Tragseil einzeln gezogen werden, wie derzeit auch im Aulendorfer Bahnhof. Dort laufen, anders als auf der freien Strecke, die entscheidenden Arbeiten nachts. Denn tagsüber fahren den Bahnhof weiterhin Züge aus Richtung Biberach, Bad Waldsee und Altshausen an. Unter diesem Betrieb zu arbeiten – unmöglich: „Wir sind ja auch selber mit Baufahrzeugen auf den Gleisen und können nur arbeiten, wenn kein Zug fährt“, sagt Atzler. Bleibt die vierstündige Nachtpause plus ein paar Stunden drum herum, in denen die Züge auf anderen Gleisen ein- und ausfahren. „Das wird alles abgestimmt, deshalb haben wir Monate im Voraus unsere Sperrpausen angemeldet.“
Derzeit wird nachts im Aulendorfer Bahnhof das Kettenwerk gezogen. Kein einfaches Unterfangen auch wegen der Bahnsteigdächer, mehrerer Bahnsteige und vor allem der Weichenkreuzungen. Und obwohl der Aulendorfer Bahnhof nur rund zwei Kilometer lang ist und lediglich die Hauptgleise mit Oberleitungen ausgestattet werden, sind dort 13 Kilometer Drahtleitungen nötig; für die restliche freie Strecke – in beide Richtungen – und den ersten Teil des Ravensburger Bahnhofs nochmals rund 45 Kilometer.
Noch bis Mitte Juli bleibt die Strecke zwischen Aulendorf und Ravensburg wegen der Elektrifizierung gesperrt, solange fahren in dem Abschnitt ersatzweise Busse. Darüber hinaus wird im Bahnhof Aulendorf bis 22. August gearbeitet. Dort wird ab Anfang Juli das Oberleitungswerk regelkonform in Solllage gezogen, denn insbesondere im Bahnhof, wo die Kettenwerke sich kreuzen, müssen die Mindestabstände zwischen den Seilen eingehalten werden. Im September zieht Atzler mit den Hauptarbeiten weiter in Richtung Friedrichshafen. „Die nächste Herausforderung“, sagt er, „wird der dortige Bahnhof.“
Spatenstich für die Elektrifizierung der Südbahn war im Frühjahr 2018. Seither arbeitet sich das Projekt von Ulm in Richtung Bodensee voran, mittlerweile laufen die Hauptarbeiten auf dem Streckenabschnitt von AulendorfMochenwangen-NiederbiegenRavensburg. Ab 14. September bis 19. Dezember schließt sich das Teilstück von Ravensburg bis Friedrichshafen an. Die gesamte Elektrifizierung soll Ende 2021 abgeschlossen sein.