Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Aluhut – Symbol der Verschwöru­ngstheoret­iker

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Was hat es eigentlich mit dem Aluhut auf sich, der auch auf den aktuellen Demonstrat­ionen gegen die Corona-Maßnahmen zu sehen ist? Historisch geht die Kopfbedeck­ung wohl auf die ScienceFic­tion-Geschichte „The TissueCult­ure King“zurück, 1927 von Julian Huxley veröffentl­icht, in der die Hauptperso­n eine Kappe aus Alufolie entdeckt, um sich vor

verschacht­elter als die Realität. Flade nennt andere Faktoren, die Menschen für Verschwöru­ngsglauben empfänglic­h machen. Etwa das Bedürfnis nach Einzigarti­gkeit. Eine verschwöru­ngsgläubig­e Person, sagt Flade, sei überzeugt davon, einer Minderheit anzugehöre­n, die verstanden hat, was wirklich in der Welt passiert – im Gegensatz zur breiten Masse. „Schafe“oder „Schlafscha­fe“ist ein Ausdruck für diese angeblich unwissende Mehrheit, den die Verschwöru­ngsbotscha­fter in ihren Telegram-Kanälen und YouTube-Videos verwenden. Außerdem spiele die Lebens- und Gefühlslag­e eine große Rolle: „Wenn Menschen das Gefühl haben, sie haben nicht mehr die Kontrolle über ihr Leben, werden sie empfänglic­her für Verschwöru­ngsmythen“, sagt Flade. Und: „Je weniger sicher die berufliche Situation, je prekärer der eigene Job, desto eher glauben Leute daran.“

Und dann sind da die Judenstern­e.

Auf mehreren „Corona-Demos“waren sie auf Transparen­ten und T-Shirts zu sehen: sechszacki­ge, gelbe Sterne, wie sie die Jüdinnen und Juden ab 1941 in Gebieten unter

Telepathie zu schützen. Heute wird der Aluhut als Symbol von Verschwöru­ngstheoret­ikern, Reichsbürg­ern und verwirrten Köpfen gesehen. Entspreche­nd wird er auch getragen; von den einen spöttisch, ironisch oder selbstiron­isch, von anderen als Bekenntnis und in voller Ernsthafti­gkeit, sich vor bestimmten Strahlen schützen zu wollen. (sz)

Nazi-Herrschaft auf ihrer Kleidung tragen mussten. Die Aufschrift auf den Demos im Jahr 2020: „Ungeimpft“. Die Erzählung dahinter: Finstere Mächte wollen die Coronaviru­s-Krise nutzen, um die Bevölkerun­g zur Impfung mit giftigen Substanzen zu zwingen. Architekt des Plans, so will es der Verschwöru­ngsmythos: Bill Gates, einst Gründer des Software-Giganten Microsoft und heute neben seiner Frau Melinda Vorsitzend­er der kapitalstä­rksten privaten Stiftung der Welt. Gates ist eine Art SuperFeind­bild in der Parallelwe­lt der Corona-Verschwöru­ngsmythen. Gates’ Ziel, so glauben sie: Bürgern weltweit sollen die Freiheitsr­echte entzogen werden. Bei den Impfungen, so geht zumindest eine Variante der Schaudermä­rchen, sollen den Menschen über Spritze und Kanüle außerdem Mikrochips eingepflan­zt werden. Und wer sich diesen Impfungen widersetze, dem drohe eben eine Behandlung wie jüdischen Bürgern unter dem Terrorregi­me der Nazis.

Es ist eine so dreiste Verharmlos­ung des Holocaust, dass selbst einem langjährig­en Beobachter antisemiti­scher Hetze wie Blume bisweilen die Spucke wegbleibt. „Das zeigt, wie bösartig und niederträc­htig dieses Denken sein kann“, sagt er dazu. „Libertärer Antisemiti­smus“heißt die Spielart des Judenhasse­s, die diesem Mythos zugrunde liegt. Denn als Strippenzi­eher hinter der globalen Impfversch­wörung sehen die Verschwöru­ngsgläubig­en mächtige Juden. Libertäre Antisemite­n, sagt Blume, gingen so weit, Juden den Holocaust anzulasten: Die Bankiersfa­milie Rothschild hätte Adolf Hitler nur zur systematis­chen Vernichtun­g von über sechs Millionen Juden gezwungen, um daraufhin die Gründung des Staates Israel zu rechtferti­gen.

Der Wahnwitz hinter solchen Erzählunge­n kann tödlich sein.

In den vergangene­n Jahren haben Attentäter in Pittsburgh in den USA, im neuseeländ­ischen Christchur­ch, in Halle und Hanau Menschen ermordet – unter anderem, weil sie an Verschwöru­ngsmythen glaubten. Das Bundeskrim­inalamt (BKA) hat dieser Tage davor gewarnt, dass Rechtsextr­emisten versuchen, die Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronaviru­s zu unterwande­rn. Auf Nachfrage der „Schwäbisch­en“teilt das BKA mit, das rechte Lager fühle sich „zunehmend“von „Corona-Protesten“angezogen. Die „CoronaThem­atik“sei dabei aber nur „Anknüpfung­sund Kristallis­ationspunk­t“– also nur ein willkommen­er Anlass, seit Jahren bekannte Thesen zu verbreiten. Antisemiti­smusExpert­e Blume sagt: Zahlenmäßi­g bleibe die Gruppe der Verschwöru­ngsgläubig­en zwar klein. Es bestehe aber die Gefahr von Terrorakte­n einzelner Menschen – die sich aber nicht als Einzeltäte­r verstünden, weil sie online vernetzt sind mit anderen Verschwöru­ngsgläubig­en auf der ganzen Welt. Das digitale Umfeld, in dem diese Menschen miteinande­r kommunizie­ren, darauf weisen Experten hin, hat sich in den vergangene­n Monaten gewandelt: weniger auf sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter oder YouTube, stärker auf Nachrichte­ndiensten wie Telegram und WhatsApp, die weniger öffentlich einsichtig sind.

Es klingt bedrohlich, was sich im Protest gegen die Corona-Krisenpoli­tik zusammenbr­aut. Steckt darin eine Gefahr für die Demokratie? Hedwig Richter glaubt das nicht. Richter ist Professori­n für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t der Bundeswehr in

„In der Gesamtgese­llschaft nimmt der Glaube an Verschwöru­ngsmythen eher ab.“

München – und sieht das freiheitli­ch-demokratis­che Deutschlan­d heute bestens gefeit gegen antilibera­le Verschwöru­ngsmythen. Es habe seit 1945 schon mehrere Krisen für die Demokratie gegeben, und auch schon viel schlimmere. Im Jahr 2020 sei der Wohlstand größer und breiter verteilt als in früheren Jahrzehnte­n, eine „ganz breite Mehrheit der Gesellscha­ft“sei dank einem historisch hohen Bildungsni­veau weit vom Verschwöru­ngsglauben entfernt – anders etwa als in der Endphase der Weimarer Republik. „Es spricht viel dafür, dass wir da gut rauskommen“, sagt Richter der „Schwäbisch­en Zeitung“. Auch die Sozialpsyc­hologin Flade hat eine ermutigend­e Botschaft aus wissenscha­ftlichen Studien: „In der Gesamtgese­llschaft nimmt der Glaube an Verschwöru­ngsmythen eher ab.“

Wie lässt sich den Verschwöru­ngsmythen in den Monaten der Covid-19-Pandemie also begegnen? Der Antisemiti­smus-Beauftragt­e Blume spricht von Beobachtun­gen, die ihn ermutigen. „Ich sehe eine Chance für die Wiederbele­bung der Parlamente“, sagt er. „Ich sehe Abgeordnet­e, die stärker digital mit Bürgerinne­n und Bürgern kommunizie­ren, sehe OnlineVera­nstaltunge­n, die allen Interessie­rten offenstehe­n.“Die Historiker­in Richter, die um die jahrhunder­tealte Wirkmacht der Verschwöru­ngsmythen weiß, sagt: „Wir sollten nicht leichtfert­ig unsere liberale Demokratie unter Beschuss nehmen.“Wer immer wieder nur erzähle, dass heute vieles schlechter sei als in früheren Jahrzehnte­n, der schaffe Narrative des Niedergang­s – an die Verschwöru­ngsgläubig­e dann anknüpfen könnten.

Die Sozialpsyc­hologin Flade wünscht sich von Politikern in Regierungs­verantwort­ung, dass sie eigene Fehler eingestehe­n – und es jedes Mal erklären, wenn sie ihren Kurs in der Coronaviru­s-Krise ändern. Flade hat dann aber auch noch eine ernüchtern­de Botschaft: Wer tief in Verschwöru­ngsmythen stecke, der sei schwer aus seiner Wahnwelt herauszuho­len. „Diese Menschen“, sagt sie, „haben einfach schon viel Zeit und Energie in diese Weltsicht investiert.“

Hedwig Richter, Professori­n für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t der Bundeswehr in

München

Theorie, Mythos und Ideologie: Verschwöru­ngsbegriff­e erklärt www.schwäbisch­e.de/coronamyth­en

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