Schwäbische Zeitung (Biberach)
Der lange Weg zurück in die Schulklassen
In Großbritannien plant die Regierung, ab Juni die Schulen wieder zu öffnen – Viele Eltern und Lehrer sind skeptisch
LONDON - Langweilig ist es Julian Wickham nicht gewesen im CoronaLockdown der vergangenen Wochen. Täglich versorgt die Londoner St. Michael-Primarschule ihre Zöglinge online mit Schulaufgaben, brav sitzt der Neunjährige täglich vor dem väterlichen Computer, nach eigener Einschätzung „drei bis vier Stunden“. Mit den Eltern oder einem seiner drei Geschwister geht der Fan des FC Arsenal spazieren, klettert auf Bäume, spielt im Garten Fußball.
Ob er sich fürchtet vor dem unheimlichen Virus? „Ich will natürlich nicht krank werden“, sagt Julian nüchtern, Angst habe er eigentlich keine. „Man muss eben Abstand halten und sich viel die Hände waschen.“An ein baldiges Wiedersehen mit den Großeltern mag der junge Londoner nicht so recht glauben, die seien schließlich anfällig, „da muss man aufpassen“. Für sich selbst aber wünscht er sich die Rückkehr zur Normalität mit seinen Freunden. Also bald wieder in die Schule? „Das wäre sehr gut.“
In Wirklichkeit stehen die Chancen für Julian und Hunderttausende anderer Schulkinder in Großbritannien auf baldige Rückkehr in die vertrauten Lehranstalten schlecht. In Schottland, wo ohnehin bald die Sommerferien beginnen, dürfen die Kinder erst ab Mitte August zurückkehren, hat die Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon verkündet.
Die englischen Schulen, Zuständigkeit der Londoner Zentralregieden rung, sollen dagegen dem Willen von Premier Boris Johnson zufolge bereits am 1. Juni, für die zweite Hälfte des Sommer-Trimesters, wieder öffnen.
Doch die frohgemute Ankündigung dürfte vielerorts am Widerstand von Kommunalverwaltungen, Gewerkschaften und der mangeln
Vorbereitung der Regierung scheitern.
Wie in anderen Lebensbereichen auch nahmen viele Eltern auf der Insel schon Anfang März die erst später verkündeten Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen vorweg. Julian erinnert sich begeistert an die Zeit, als seine Klasse von 28
Buben und Mädchen auf etwa die Hälfte reduziert war. „Alle meine Freunde kamen weiterhin, in den Pausen hatten wir den Schulhof für uns.“Derzeit gehört das Terrain jenen Kindern, deren Eltern in wichtigen Schlüsselberufen wie in Krankenhäusern oder bei der Polizei arbeiten.
Das dürfte noch eine Zeitlang so bleiben. Unter dem Druck der mächtigen Lehrergewerkschaften haben große Kommunen wie Birmingham, Liverpool und Leeds einen Neuanfang am 1. Juni bereits ausgeschlossen. Man müsse die Schulen in der ersten Juniwoche erst einmal für die neue Lage herrichten, erläutert Ian
Courts, Rathauschef von Solihull – kommende Woche sind nominell die sogenannten Halfterm-Ferien. Ohnehin geben sich in Umfragen die Briten sehr ängstlich, nur eine Minderheit drängt auf eine baldige Wiederöffnung der Schulen.
Die Michaelsschule hat sich bei den Eltern bisher nicht gemeldet. Julians Vater James sieht die vermeintlich der Sicherheit geschuldete Zurückhaltung staatlicher Schulen ebenso kritisch wie die Versuche, die Kinder virtuell zu unterrichten. Korrigiert werde von den online erledigten Aufgaben „gerade mal zehn Prozent“, schätzt der TV-Journalist und kontrastiert Julians Schulerlebnis mit seinen älteren Söhnen, die private Sekundarschulen besuchen: „Da wird der ganz normale Stundenplan unterrichtet, nur eben online.“
Die konservative Regierung setzt die Schulzweifler mit eindeutigen Statistiken unter Druck: Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien leiden am stärksten unter dem Lockdown. Oft fehlen ihnen Computer zur Teilnahme am virtuellen Unterricht, bei Hausaufgaben können die Eltern kaum helfen, in Migrantenfamilien kommen sprachliche Probleme hinzu. Bildungsminister Gavin Williamson drängt darauf, vorrangig die Kindergarten und Einführungsklassen (Alter: 3-5 Jahre) sowie die 6. Klasse zu öffnen, von der aus die 11-Jährigen in die weiterführenden Schulen übergehen.
Selbst im optimalen Fall muss der Viertklässler Julian also noch ein wenig länger warten.