Schwäbische Zeitung (Biberach)
Warum Wissenschaft gute Fragen braucht
BIBERACH (sz) - In der Hochschulkolumne beschäftigt sich Prorektor Jens Winter damit, was ein Studium ausmacht, welche Herausforderungen dieser Lebensabschnitt bringt und welche Möglichkeiten der Bildung sich jenseits von Leistungspunkten bieten:
„Das neue Semester hat begonnen, viele Erstsemester nehmen ihr Studium auf und beginnen einen neuen Lebensabschnitt. Was ist das eigentlich: ein Studium? Mehr als Schule offenkundig, denn es folgt erst im nächsten oder übernächsten Schritt. Den Unterschied aber macht etwas anderes: Studieren ist ein eigener Lebensabschnitt, verbunden mit Freiheiten und Möglichkeiten.
Im Gegensatz zur Schule muss ein Studierender/eine Studierende nicht in den „Unterricht“kommen. Niemand zwingt einen zum Aufstehen, keine Schulglocke unterbricht den Austausch zwischen Professor/Professorin und Student/Studentin. Hochschule ist freiwillig, sozusagen selbst verschuldet. Und das ist ja auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, das vom lateinischen Verb „studere“abgeleitet wird: nach etwas streben, sich um etwas bemühen. Gemeint ist also Eifer, Lust, Begierde – kurzum: Wollen. Dieses Wollen ist jedoch kein Selbstläufer; es bedarf der Selbstmotivation und der Selbstorganisation. Schließlich – wir hatten es bereits davon – bedeutet Wollen Freiheit und Freiheit bedeutet Verantwortung, anderen gegenüber ebenso wie sich selbst.
Ein solcher neuer Lebensabschnitt kann beflügeln und antreiben; manchmal kann er zur Last werden, denn Studieren ist mit ungeübten Situationen verbunden: neue Leute, neue Umgebung, neue Tools, ganz zu schweigen von den Prüfungen. Was hilft, ist, Fragen zu stellen – bei Schwierigkeiten ebenso wie aus Interesse. Fragen sollten einem als Student/Studentin niemals ausgehen. Diese Erkenntnis
● finden wir auch bei Albert Einstein, der einmal über sich sagte: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“Mit anderen Worten: ein guter Wissenschaftler/eine gute Wissenschaftlerin zeichnet sich nicht durch gute Antworten, sondern durch gute Fragen aus!
Entsprechend lässt sich Wissen nicht mittels Diktion oder „Löffeln“verabreichen; dieses sogenannte „Wissen“wäre nicht mehr als auswendig gelerntes Nachplappern, was durch regelmäßige Wiederholung häufig mit Wahrheit gleichgesetzt wird. Eine gefährliche Spirale, die wir derzeit auch in unserer Welt erleben.
Wissen zu erwerben, bedeutet, neugierig zu sein und zu bleiben; nicht damit aufzuhören, Fragen zu stellen und Antworten zu hinterfragen. Diese Neugierde benötigt Fantasie und gelingt dann, wenn der Einzelne über den eigenen Tellerrand hinausschaut und sich die Mühe macht, andere Blickwinkel einzunehmen und zu verstehen. In der Wissenschaft nennen wir diese Vorgehensweise Interdisziplinarität. Darüber hinaus sind natürlich Methoden und Kompetenzen notwendig, die im Laufe des Studiums geübt werden. So machen wir Hochschule.
Ein Studium ist also mehr als der Erwerb von soundsovielen Leistungspunkten, verteilt über sechs, sieben, acht Semester. Es ist mehr als der sich wiederholende semesterliche Rhythmus von Vorlesungsphase, Prüfungen und Ferien. Studium ist die Möglichkeit und der geschützte Raum, sich zu bilden – als Mensch, als Persönlichkeit, mit Stärken und Schwächen, zu jemandem, der Verantwortung im Beruf und in der Gesellschaft übernimmt. Der Schweizer Philosoph Peter Bieri beschreibt diese Entwicklung wie folgt: „Bildung beginnt mit Neugierde.“Ein Satz, der sich leichter merken lässt, als verinnerlichen. Versuchen wir es trotzdem.“