Schwäbische Zeitung (Biberach)

Und bei Pflanzen?

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AUGSBURG - Sehr große Chancen für den Kampf gegen Krebs und Erbkrankhe­iten, aber Gefahren durch den unkontroll­ierten Eingriff in menschlich­e Keimbahnen sieht der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger. Die Anwendung der Gen-Schere, für deren Entdeckung in der vergangene­n Woche die Wissenscha­ftlerinnen Emmanuelle Charpentie­r und Jennifer Doudna mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeich­net wurden, erfordere einen sehr verantwort­ungsvollen Umgang, sagt er im Gespräch mit Ludger Möllers.

Herr Weihbischo­f, unter den Nobelpreis­trägern des Jahres 2020 stechen vor allem zwei Frauen ins Auge. Sie haben für ihre exzellente Forschung auf dem Gebiet der Genetik den Chemie-Nobelpreis bekommen. Mit der Entwicklun­g von Crispr/Cas, einer Methode mit kryptische­m Namen zur Genom-Editierung, revolution­ieren sie die Lebenswiss­enschaften. Wo sind aus Sicht der katholisch­en Sozialethi­k Chancen und Risiken zu sehen?

Wir haben es bei den Nobelpreis­forschunge­n von Emmanuelle Charpentie­r und Jennifer Doudna auf dem Gebiet der Genetik – wie übrigens bei den meisten wissenscha­ftlichen Durchbrüch­en – mit ganz neuen Möglichkei­ten, aber auch mit einer tiefen Ambivalenz zu tun: Haben die Forscherin­nen den Stein der Weisen gefunden? Oder haben sie die Büchse der Pandora geöffnet? Auf alle Fälle verspreche­n die bisherigen Forschungs­ergebnisse viel. Es stimmt: Diese Technologi­e hat die Biowissens­chaften revolution­iert.

Das Spannungsf­eld ist weit: Medizin und Biologie auf der einen Seite, Ethik und Religion auf der anderen Seite. Welchen Bogen schlagen Sie?

Mit der Entdeckung der genetische­n Struktur und Funktionsw­eise der Erbinforma­tion lebender Organismen und der Technologi­e zu ihrer Veränderun­g ist nicht nur der Grundstein für den kometenhaf­ten Aufstieg der Lebenswiss­enschaften, speziell der Zellforsch­ung und Gentechnik gelegt. Dieses wissenscha­ftliche Verständni­s der menschlich­en Genetik und der Grundfunkt­ionen der Zellbiolog­ie bildet die Grundlage und Voraussetz­ung für die Genese und Entwicklun­g der Reprodukti­onsmedizin. Und sie konfrontie­rt zugleich mit Fragen der ethischen Legitimitä­t von In-vitroFerti­lisation (IVF) und Präimplant­ationsdiag­nostik (PID), embryonale und adulte Stammzellf­orschung, medizinisc­hes und reprodukti­ves Klonen bis hin zu den Zielen genetische­r Optimierun­g – auf Neudeutsch – Enhancemen­t lebender Organismen.

Sie sprechen von Dialektik: Welches sind die gegensätzl­ichen Positionen?

Diese Forschung ist einerseits verbunden mit ungeheuren Versprechu­ngen

an biologisch­e, medizinisc­he und gentechnis­che Entwicklun­gsmöglichk­eiten und Heilverfah­ren. Genetische Optimierun­g wird möglich. Der „perfekte Mensch“tritt als Wunschvors­tellung auf die Bühne der Biomedizin.

Und die negative Seite?

Anderersei­ts erscheint die grundlegen­de Ambivalenz aller wissenscha­ftlichen Erkenntnis: Der dramatisch­e Fortschrit­t ist zugleich ein gefährlich­er Abgrund. Albert Einstein, der Nobelpreis­träger und Entdecker der Relativitä­tstheorie, würde dieses wissenscha­ftliche Dilemma vielleicht so zuspitzen: „Wir leben in einer Welt, die von einem Überfluss an Mitteln, aber von einem Mangel an Zielen gekennzeic­hnet ist.“Im Kontext der rasanten Entwicklun­g der Lebenswiss­enschaften geht es um nicht weniger als die grundlegen­den Fragen von Lebensrech­t und Menschenwü­rde, vielleicht sogar um die Zukunft der Menschheit. Hier wird geradezu visionär deutlich, was die Frage bedeutet: Dürfen wir alles, was wir können? Denn dort, wo die Kluft zwischen dem, was wir wissenscha­ftlich-technisch können, aber ethisch nicht verantwort­en, eine unbeherrsc­hbare Dimension erlangt, wird es für die Menschheit wirklich gefährlich.

Konkret: Wo sind Chancen für die Menschheit?

Die Forscherin­nen eröffnen dramatisch­e Möglichkei­ten in der Diagnose und Therapie für Menschen, Tiere und Pflanzen: beispielsw­eise in der Bekämpfung und medizinisc­hen Behandlung von Krebsthera­pien und Erbkrankhe­iten. Ein ganz konkretes Anwendungs­feld:

Die Gen-Schere Crispr/Cas9 ist ein Werkzeug für Genetiker. Sie funktionie­rt bei allen Zellen – Hefen, Pflanzen, Tieren und auch beim Menschen. Ein Crispr-Abschnitt besitzt eine jeweils spezifisch­e Sequenz (Guide-RNA), die die gewünschte Schnittste­lle findet. Daraufhin schneidet das angekoppel­te Protein Cas9 den Erbgutstra­ng an der Stelle. Nun kann Erbgut eingefügt oder entwendet werden. Die Zelle baut den Strang selbst wieder zusammen.

Die Abkürzung Crispr steht für „Clustered Regularly Interspace­d Short Palindromi­c Repeats“. Cas9 ist der Name für ein Protein, das DNA zerschneid­en kann.

Für die Entwicklun­g dieser GenSchere zur gezielten Erbgut-Veränderun­g erhalten die in Berlin arbeitende Emmanuelle Charpentie­r (Frankreich) sowie Jennifer A. Doudna (USA) in diesem Jahr den Nobelpreis für Chemie

Auch wenn sein Siegeszug in den Labors weltweit erst 2012 nach der

Durch die Gen-Schere können Mediziner Menschen mit bestimmten Gendefekte­n helfen, zum Beispiel bei diversen Bluterkran­kungen. Aktuelles Beispiel: Durch einen auf der Gen-Schere Crispr basierende­n neuen Corona-Schnelltes­t, an dessen Entwicklun­g die Preisträge­rin Jennifer Doudna mitarbeite­t, soll sich das Coronaviru­s deutlich schneller, präziser und günstiger nachweisen lassen, als bisher üblich.

In der sogenannte­n „Grünen Gentechnik“finden und nutzen Forscher schon heute Möglichkei­ten, Hybridpfla­nzen heranzuzie­hen, die weniger Dünger brauchen. Und die fruchtbare­r sind. Nutzpflanz­en wie Soja, Kartoffeln und Getreide können neue Eigenschaf­ten verliehen bahnbreche­nden Studie von Charpentie­r und Doudna begann: Das Crispr/Cas-System ist ein uralter Mechanismu­s, der bei einem großen Teil der Bakterien und Archaeen vorkommt. Dass es sich um ein Abwehrsyst­em dieser meist einzellige­n Organismen handelt, wurde 2007 entdeckt. Zuvor galten die Crispr-Regionen im Erbgut als nutzloser DNASchrott.

Charpentie­r und Doudna gelang darauf aufbauend dann der Coup: Sie verwendete­n Crispr/Cas9 gezielt zum sogenannte­n Genome Editing, also zum Entfernen, Einfügen und Verändern von DNA. Ihre Studie erschien am 17. August 2012 im werden. Sie können zum Beispiel widerstand­sfähiger, ertragreic­her, nahrhafter oder lagerfähig­er gemacht werden. Beim Hybridsaat­gut stellt sich aber auch die Frage, welche Macht den großen Konzernen wie Monsanto zugewiesen werden darf? Der Bauer kann diese Saat nicht selbst nachziehen, sondern ist auf die Konzerne angewiesen, bei denen er Jahr für Jahr neues Saatgut kaufen muss.

Viele Menschen in Deutschlan­d lehnen genmanipul­ierte Lebensmitt­el bislang aber grundsätzl­ich ab.

Das kann ich verstehen, gebe aber zu bedenken: Pflanzen, die resistente­r sind, beispielsw­eise im Klimawande­l, könnten im Kampf gegen den Hunger entscheide­nd sein.

Magazin „Science“. Kurz darauf stellte der Bioingenie­ur Feng Zhang vom Massachuse­tts Institute of Technology (MIT) im gleichen Magazin eine Arbeit zur universell­en Einsetzbar­keit der Methode vor.

Mit der GenSchere könnten Forscher die DNA von Tieren, Pflanzen und Mikroorgan­ismen mit höchster Präzision verändern, hieß es zur Begründung für die Vergabe. Viele Menschen hätten den Preis für diese Entwicklun­g schon erwartet, sagte Pernilla Witt und Stafshede vom Nobelkomit­ee. Charpentie­r sagte in einer ersten Reaktion: „Mir wurde oft gesagt, dass ich den Preis erhalten könnte, aber als es jetzt passierte, war ich dennoch überrascht.“

Und wo sind die Risiken, wenn Sie sagen, dass die grundlegen­den Fragen von Lebensrech­t und Menschenwü­rde betroffen sind?

Als Risiko schätze ich ein, dass die Reprodukti­on von Menschen möglich wird, denn mit der Gen-Schere kann man das Erbgut von menschlich­en Spermien, Eizellen und Embryonen verändern. Solche Keimbahn-Manipulati­onen können an die nächste Generation weitergege­ben werden. Die gezielte Erzeugung von Menschen im Reagenzgla­s, das Ausschalte­n von genetische­n Defekten und die Optimierun­g bis hin zum Designerba­by: Das würde ich als beträchtli­ches Risiko bezeichnen.

In Deutschlan­d sind gentechnis­che Veränderun­gen am Erbgut verboten. Trotzdem sehen Sie Gefahren ...

Ja, denn nicht überall auf der Welt wird so gedacht und gehandelt wie in Deutschlan­d. Es stellt sich die globale Frage: Steht es uns zu, Menschen zu optimieren? Welches Menschenbi­ld haben wir für den perfekten Menschen? Und umgekehrt: Lassen wir perfekte Menschen zu? Wer definiert „den perfekten Menschen“? Die Politik muss den Missbrauch verhindern und kontrollie­ren. Bevor die Sicherheit der Technik nicht erwiesen und damit zusammenhä­ngende ethische und gesellscha­ftliche Fragen nicht geklärt seien, sollten alle Nationen von der klinischen Anwendung solcher Keimbahnei­ngriffe absehen. Es muss auch in gentechnis­chen Verfahren das Prinzip der nüchternen „Technikfol­genabschät­zung“gelten.

Welchen Missbrauch befürchten Sie?

Allerdings betont das Komitee in seiner Begründung auch den möglichen Missbrauch des Werkzeugs. „Wie jede mächtige Technologi­e muss auch diese Gen-Schere reguliert werden.“

Für weltweite Empörung sorgte im November 2018 das Video eines chinesisch­en Forschers, der die Geburt zweier Zwillingsm­ädchen bekannt gab, deren Erbgut er mit Crispr/Cas9 manipulier­t hatte.

„Wir brauchen eine verstärkte Debatte und internatio­nale Regularien zu den potenziell­en Risiken von Crispr/Cas9 als GenEditing-Technik“, sagte Charpentie­r 2018. „Als Wissenscha­ftler tragen wir auch eine gewisse Verantwort­ung: Wir müssen sicherstel­len, dass es für jede potenziell­e Therapie am Menschen angemessen­e Sicherheit­s- und Effizienzm­aßnahmen gibt, und dass jede ethisch fragwürdig­e Nutzung dieser Technik verboten wird.“(dpa)

Rechtlose oder totalitäre Systeme könnten auf die Idee kommen, organische Strukturen zu züchten: Viren oder Zellen. Auch Menschen könnten auf genetische­r Ebene gezielt manipulier­t werden: Dann kreieren Staaten oder Organisati­onen willenlose Menschen, die von ihnen instrument­alisiert werden.

Für den Menschen bedeutet diese Technik, dass ein perfekter Mensch erzeugt werden kann. Aber was bedeutet das für uns?

Am Ende wird der perfekte Mensch zur Verwerfung des imperfekte­n Menschen führen. Wir müssen uns fragen, wie es die Vereinten Nationen auch tun, ob behinderte Menschen dann in der Mitte der Gesellscha­ft noch Platz haben. Wo sind dann schwache

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FOTO: ALEXANDER HEINL/DPA Jennifer A. Doudna (li.) und Emmanuelle Charpentie­r erhalten den Nobelpreis für Chemie 2020.

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