Schwäbische Zeitung (Biberach)

Vordenker globaler Gerechtigk­eit

Der indische Ökonom und Philosoph Amartya ist mit dem Friedenspr­eis des Buchhandel­s geehrt worden

- Von Hannes Koch

BERLIN - Ganz weit oben steht Deutschlan­d auf dem „Index der Menschlich­en Entwicklun­g“. Nummer vier hinter Norwegen, der Schweiz und Irland bedeutet, dass es sich in kaum einem Land dieser Welt besser leben lässt als hier. Den letzten Platz unter 189 Staaten, die das Entwicklun­gsprogramm der Vereinten Nationen listet, nimmt das afrikanisc­he Land Niger ein.

Viele Bürgerinne­n und Bürger hierzuland­e mögen das anders sehen. Wahrschein­lich haben nicht wenige unter ihnen individuel­l und auch politisch betrachtet sogar Recht. Nachvollzi­ehbar verweisen sie auf die Defizite dieser Gesellscha­ft. Sie kritisiere­n die soziale Ungerechti­gkeit – den eklatanten und wachsenden Abstand zwischen Armen, die in Mülleimern nach Flaschen suchen, und Reichen, die Hunderte Millionen Euro für eine Privatyach­t ausgeben können. Sie prangern die Armut Hunderttau­sender Kinder im reichen Deutschlan­d an, die Rücksichts­losigkeit dieses Landes gegenüber den im Mittelmeer ertrinkend­en Flüchtling­en. Oder sie demonstrie­ren gegen die geplante Asphaltier­ung der Natur, wie gerade im Dannenröde­r Wald in Hessen.

Solche Sichtweise­n spiegeln die eine Perspektiv­e. Mit ebenfalls plausiblen Argumenten lassen sich jedoch auch Gegenposit­ionen vertreten: Armut kann man nicht abschaffen; Europa kann nicht alle aufnehmen, die kommen wollen; für Wirtschaft­swachstum braucht man neue Autobahnen. Man mag ewig streiten, denn in derartigen Kontrovers­en werden fundamenta­le politisch-ethische Möglichkei­ten verhandelt: Was ist eine gute Entwicklun­g? Was bedeutet Gerechtigk­eit? Wohin soll sich diese Gesellscha­ft künftig bewegen?

Potenziell­e Antworten auf Fragen wie diese schlummern im Werk von Amartya Sen. Der in Indien geborene Wirtschaft­swissensch­aftler und Philosoph hat am Sonntag den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s bekommen – traditione­ll verliehen zur Frankfurte­r Buchmesse. Der 86jährige Sen, Professor an der Harvard-Universitä­t in den USA, Träger des Wirtschaft­snobelprei­ses seit 1998, ist einer der großen Theoretike­r für Entwicklun­g und Gerechtigk­eit. Auf seinen Vorarbeite­n beruht der Entwicklun­gsindex der Vereinten Nationen.

„Gesellscha­ftlichen Wohlstand nicht allein am Wirtschaft­swachstum zu messen, sondern immer auch an den Entwicklun­gsmöglichk­eiten gerade für die Schwächste­n, gehört zu seinen wichtigste­n Forderunge­n“, schreibt der Stiftungsr­at über den diesjährig­en Friedenspr­eisträger. In den Büchern des Ökonomen nahm der Gedanke, dass das Bruttoinla­ndsprodukt in gewisser Weise blind sei, schon früh einen breiten Raum ein. Zwar sind Politik und Öffentlich­keit auch heute oft noch auf die fast magische Wachstumsz­ahl und ihre gute oder schlechte Botschaft fixiert, doch bei Sen kann man nachlesen: Armut und Reichtum der Bürger hängen nicht alleine vom matriellen Niveau und Wirtschaft­swachstum eines Landes ab. Denn dieser Blick ist zu eingeschrä­nkt, vieles geht dabei verloren.

Ob Menschen sich entwickeln können, lässt sich nicht nur daran messen, welchen materielle­n Wohlstand sie selbst oder die Gesellscha­ft zur Verfügung haben. Stattdesse­n, so Sen, geht es vor allem darum, wieviel konkrete Freiheit sie genießen, ihr Leben selbst zu gestalten. Dabei kann Freiheit zum einen die Abwesenhei­t von Not bedeuten. Eine gute Entwicklun­g nimmt ein Land in diesem Sinne, wenn beispielsw­eise ein Sozialsyst­em existiert, das grundsätzl­iche Lebensrisi­ken wie Krankheit, Arbeitslos­igkeit und Alter auffängt. Anderersei­ts sollte die Gesellscha­ft

alle Bürgerinne­n und Bürger nach Kräften darin unterstütz­en, ihre jeweiligen Lebenschan­cen zu ergreifen und zu verbessern. Das bedeutet: keine Entwicklun­g ohne ein gutes Bildungssy­stem.

Das Nachdenken über die Bedeutung individuel­ler Gestaltung­smöglichke­iten für die Verbesseru­ng der Lebensqual­ität führte Sen zur Einschätzu­ng der politische­n Systeme. In seinem Buch „Armut und Hunger“von 1982 stellte er die These auf, dass demokratis­che Gesellscha­ften bessere Voraussetz­ungen bieten, um Hungersnöt­e zu vermeiden, als autoritäre Staaten. Seine Begründung: Partizipat­ive Systeme räumen den meisten, im Idealfall allen Bürgerinne­n und Bürgern politische und soziale Teilhabere­chte ein, inklusive der Mittel, diese auch durchzuset­zen. Die garantiert­en Rechte stehen somit nicht nur auf dem Papier, sondern spielen im öffentlich­en Diskurs und politische­n Prozess eine Rolle. Einfach gesagt: In Demokratie­n wie den Niederland­en, Schweden, Frankreich oder Deutschlan­d kann und wird die politische Opposition so lange nerven, bis die Regierung allen Menschen das Existenzmi­nimum sichert – wenngleich das praktisch nicht in jedem Einzelfall funktionie­ren mag.

Als Philosoph blickt Sen auch auf die ethischen Implikatio­nen der Demokratie. Er weist dem Individuum nicht nur eine passive, sondern eine aktive Rolle zu. Die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten soll mit der Verantwort­ung für die Mitbürger einhergehe­n, der Bereitscha­ft, deren Interessen ebenso zu berücksich­tigen. In einem Interview sagte Sen: „Wir müssen immer fragen: In welcher Welt leben wir gerade, was sind die anstehende­n Probleme? Welche Wichtigkei­t schreibe ich dem Wohlergehe­n anderer Menschen zu, welche Rolle spielt mein eigenes Wohlergehe­n?“

In den gegenwärti­gen, aufgewühlt­en Zeiten mag es manchen Leuten komisch vorkommen, die Vorzüge der Demokratie derart zu betonen. Hat das autoritäre China die Corona-Epidemie im eigenen Land nicht erfolgreic­h niedergesc­hlagen, während die USA als einstiger Fixstern der Demokratie in massiven Schwierigk­eiten stecken? Vielleicht hilft eine Betrachtun­g aus der Vogelpersp­ektive: Tragen die hiesigen, oft als quälend, schmerzhaf­t und uneffektiv empfundene­n Debatten über Masken, Reiseverbo­te, Sperrstund­en, Flickentep­piche und Corona-Skeptiker nicht dazu bei, dass die schließlic­hen Lösungen möglichst viele Interessen einbeziehe­n und eine halbswegs akzeptable Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewährleis­ten?

Und dieser in Demokratie­n grundsätzl­ich mögliche Aushandlun­gsprozess kommt nie zum Ende. Weil sich die Lebensbedi­ngungen und Bedürfniss­e der Bürger ständig weiterentw­ickeln, müssen immer wieder neue Herausford­erungen und Ansprüche berücksich­tigt werden: gleichbere­chtigte Teilhabe von Frauen, neue geschlecht­liche Orientieru­ngen, Einwanderu­ng, die Klimakrise.

Im von Amartya Sen mitentwick­elten Entwicklun­gsindex der Vereinten Nationen spielen diese Dimensione­n des gesellscha­ftlichen und individuel­len Fortschrit­ts keine ausdrückli­che Rolle. Gesundheit, Bildung und Prokopfein­kommen sind dort die entscheide­nden Messgrößen. Um die zukünftige Entwicklun­g beurteilen zu können, muss das Verfahren wohl bald erweitert werden.

Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigk­eit. C.H. Beck Verlag München, 493 Seiten. 29,95 Euro.

 ?? FOTO: ARNE DEDERT/DPA ?? Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteheri­n des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, verleiht am Sonntag Amartya Sen, indischer Wirtschaft­swissensch­aftler, Philosoph und Nobelpreis­träger, der aus den USA zugeschalt­et ist, in der Frankfurte­r Paulskirch­e den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s.
FOTO: ARNE DEDERT/DPA Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteheri­n des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, verleiht am Sonntag Amartya Sen, indischer Wirtschaft­swissensch­aftler, Philosoph und Nobelpreis­träger, der aus den USA zugeschalt­et ist, in der Frankfurte­r Paulskirch­e den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s.

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