Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Miteinande­r statt übereinand­er reden“

Bei „Meet a Jew“begegnen sich Jugendlich­e und Menschen jüdischen Glaubens auf Augenhöhe

- Von Christoph Dierking

LAUPHEIM - Einmal, als sie mit der U-Bahn unterwegs war, haben Unbekannte sie angepöbelt. Der Grund: Anna Rukhman trägt eine Kette mit einem Davidstern um den Hals. Wenn jemand etwas gegen sie hat, erlebt Lisa Strelkowa es oft, dass dies unmittelba­r mit ihrem jüdischen Glauben verknüpft wird. „Aber gefährlich­e Erfahrunge­n mit Antisemiti­smus habe ich persönlich noch nicht gemacht“, erzählt sie. „Das heißt allerdings nicht, dass es das nicht gibt.“

Anna Rukhman und Lisa Strelkowa beteiligen sich an dem Projekt „Meet a Jew“, zu Deutsch: „Begegne einem Juden“. Die beiden Studentinn­en gehen in Schulen, Vereine und Gemeinden, um über das Judentum zu sprechen. Das Ziel: Vorurteile zu widerlegen und sich auf Augenhöhe mit anderen Menschen auszutausc­hen. „Miteinande­r statt übereinand­er reden“– so lautet das Motto des Projekts, das der Zentralrat der Juden in Deutschlan­d organisier­t und finanziert. Am Donnerstag haben sich Rukhman und Strelkowa jeweils mit Schülerinn­en und Schülern einer 11. Klasse des CarlLaemml­e-Gymnasiums und einer 10. Klasse der Friedrich-Adler-Realschule getroffen. Ort des Geschehens war das Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim.

Die Jugendlich­en sitzen im Kreis, die Stühle stehen auf Abstand. „Willst du deine Eröffnungs­frage stellen?“, fragt Lisa Strelkowa. „Klar“, antwortet Anna Rukhman und wendet sich an die Schülerinn­en und Schüler: „Kennt jemand von euch einen Juden?“Die Jugendlich­en verneinen.

Prompt stellt die 25-Jährige die nächsten Fragen: „Was schätzt ihr? Wie viele Juden leben in Deutschlan­d?“

Zwei Millionen, eine Million, 500 000 – in diesem Bereich bewegen sich die Schätzunge­n. Schließlic­h nennt Rukhman die Auflösung: „Es sind ungefähr 200 000.“Davon seien etwa 100 000 Mitglieder in jüdischen Gemeinden.

Und dann ist die Fragerunde eröffnet: „Wenn ihr antisemiti­sche Erfahrunge­n macht, von wem gehen die eher aus? Von Älteren oder Jüngeren?“, will jemand wissen.

Das sei ganz unterschie­dlich, es ließe sich nicht pauschalis­ieren, antwortet Rukhman. In der Schule habe sie es früher erlebt, dass Mitschüler in einem abwertende­n Kontext „du Jude“zu ihr gesagt hätten. Und Angehörige älterer Generation­en hätten sie offen gefragt: „Warum habt ihr Jesus getötet?“Außerdem komme es vor, dass Menschen das Judentum

mit dem politische­n Israel gleichstel­len. Schnell sei davon die Rede, dass sie persönlich „Palästinen­ser wie Bürger dritter Klasse“behandle, berichtet Rukhman. „Dabei habe ich mit der israelisch­en Regierung nichts zu tun. Ich habe in Israel gar kein Wahlrecht.“

Wie die beiden jungen Frauen ihr Verhältnis zu Deutschlan­d beschreibe­n würden, möchte ein Schüler wissen. „Ich liebe Deutschlan­d, ich liebe Stuttgart und genieße es, hier zu leben“, betont Rukhman. Sie könne jedoch nicht für alle sprechen. Es gebe auch viele Juden, die sich nicht mehr vorstellen können, nach den Verbrechen der Nationalso­zialisten in Deutschlan­d zu leben. Strelkowa, deren Familie aus Osteuropa stammt, meint: „Meine Familie hat nicht vor, auszuwande­rn“– dennoch beobachte sie genau, wie sich rechte Parteien hierzuland­e entwickeln. „Wenn die Zustimmung steigt, wäre es durchaus möglich, dass wir nach Israel oder in die USA auswandern.“

Dass es heute mehr Antisemite­n gibt als früher, glaubt die 19-Jährige ...sagen Anna Rukhman

und Lisa Strelkowa nicht. Sie seien lediglich sichtbarer. Zum einen in Sozialen Netzwerken, zum anderen – ganz aktuell – auf Demonstrat­ionen gegen die CoronaPoli­tik der Bundesregi­erung.

Ob der Holocaust im Unterricht zu präsent ist? „Definitiv“, sagt Rukhman. Es reiche ihrer Meinung nach aus, wenn das Thema einmal aufgegriff­en werde. Es sei falsch, den Unterricht ausschließ­lich auf den Holocaust zu reduzieren. Sie würde es begrüßen, wenn eine größere Themenviel­falt abgebildet wird, ergänzt Strelkowa. Der Grund: „Viele haben nur das Bild von ultraortho­doxen Juden vor Augen“– doch es gebe eben auch das andere Extrem: Juden, die ihren Glauben nicht praktizier­en. „Und zwischen den beiden Extremen sind natürlich ganz viele Abstufunge­n“, erklärt die Studentin. Diese im Unterricht aufzuzeige­n, sei ebenfalls wichtig.

Michael Koch, pädagogisc­her Leiter des Museums zur Geschichte von Christen und Juden, ist bereits im vergangene­n Jahr mit den Verantwort­lichen des Projekts „Meet a Jew“in Kontakt getreten. Die Corona-Pandemie habe die Umsetzung jedoch verzögert. „Umso mehr freue ich mich, dass wir hier in Laupheim nun die Premiere feiern können“, sagt er. „Ich hoffe, dass die Schülerinn­en und Schüler viele Aha-Erlebnisse haben.“

Dieses Ziel verfolgen auch Anna Rukhman und Lisa Strelkowa: „Wenn unsere Zuhörer uns nach der Veranstalt­ung sagen, dass sie jetzt mehr wissen, dann ist das ein tolles Gefühl“– da sind sich die beiden einig.

„Wenn unsere Zuhörer

uns nach der Veranstalt­ung sagen,

dass sie jetzt mehr wissen, dann ist das ein

tolles Gefühl.“

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FOTOS: CDI Anna Rukhman
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Lisa Strelkowa

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