Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Miteinander statt übereinander reden“
Bei „Meet a Jew“begegnen sich Jugendliche und Menschen jüdischen Glaubens auf Augenhöhe
●
LAUPHEIM - Einmal, als sie mit der U-Bahn unterwegs war, haben Unbekannte sie angepöbelt. Der Grund: Anna Rukhman trägt eine Kette mit einem Davidstern um den Hals. Wenn jemand etwas gegen sie hat, erlebt Lisa Strelkowa es oft, dass dies unmittelbar mit ihrem jüdischen Glauben verknüpft wird. „Aber gefährliche Erfahrungen mit Antisemitismus habe ich persönlich noch nicht gemacht“, erzählt sie. „Das heißt allerdings nicht, dass es das nicht gibt.“
Anna Rukhman und Lisa Strelkowa beteiligen sich an dem Projekt „Meet a Jew“, zu Deutsch: „Begegne einem Juden“. Die beiden Studentinnen gehen in Schulen, Vereine und Gemeinden, um über das Judentum zu sprechen. Das Ziel: Vorurteile zu widerlegen und sich auf Augenhöhe mit anderen Menschen auszutauschen. „Miteinander statt übereinander reden“– so lautet das Motto des Projekts, das der Zentralrat der Juden in Deutschland organisiert und finanziert. Am Donnerstag haben sich Rukhman und Strelkowa jeweils mit Schülerinnen und Schülern einer 11. Klasse des CarlLaemmle-Gymnasiums und einer 10. Klasse der Friedrich-Adler-Realschule getroffen. Ort des Geschehens war das Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim.
Die Jugendlichen sitzen im Kreis, die Stühle stehen auf Abstand. „Willst du deine Eröffnungsfrage stellen?“, fragt Lisa Strelkowa. „Klar“, antwortet Anna Rukhman und wendet sich an die Schülerinnen und Schüler: „Kennt jemand von euch einen Juden?“Die Jugendlichen verneinen.
Prompt stellt die 25-Jährige die nächsten Fragen: „Was schätzt ihr? Wie viele Juden leben in Deutschland?“
Zwei Millionen, eine Million, 500 000 – in diesem Bereich bewegen sich die Schätzungen. Schließlich nennt Rukhman die Auflösung: „Es sind ungefähr 200 000.“Davon seien etwa 100 000 Mitglieder in jüdischen Gemeinden.
Und dann ist die Fragerunde eröffnet: „Wenn ihr antisemitische Erfahrungen macht, von wem gehen die eher aus? Von Älteren oder Jüngeren?“, will jemand wissen.
Das sei ganz unterschiedlich, es ließe sich nicht pauschalisieren, antwortet Rukhman. In der Schule habe sie es früher erlebt, dass Mitschüler in einem abwertenden Kontext „du Jude“zu ihr gesagt hätten. Und Angehörige älterer Generationen hätten sie offen gefragt: „Warum habt ihr Jesus getötet?“Außerdem komme es vor, dass Menschen das Judentum
mit dem politischen Israel gleichstellen. Schnell sei davon die Rede, dass sie persönlich „Palästinenser wie Bürger dritter Klasse“behandle, berichtet Rukhman. „Dabei habe ich mit der israelischen Regierung nichts zu tun. Ich habe in Israel gar kein Wahlrecht.“
Wie die beiden jungen Frauen ihr Verhältnis zu Deutschland beschreiben würden, möchte ein Schüler wissen. „Ich liebe Deutschland, ich liebe Stuttgart und genieße es, hier zu leben“, betont Rukhman. Sie könne jedoch nicht für alle sprechen. Es gebe auch viele Juden, die sich nicht mehr vorstellen können, nach den Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland zu leben. Strelkowa, deren Familie aus Osteuropa stammt, meint: „Meine Familie hat nicht vor, auszuwandern“– dennoch beobachte sie genau, wie sich rechte Parteien hierzulande entwickeln. „Wenn die Zustimmung steigt, wäre es durchaus möglich, dass wir nach Israel oder in die USA auswandern.“
Dass es heute mehr Antisemiten gibt als früher, glaubt die 19-Jährige ...sagen Anna Rukhman
und Lisa Strelkowa nicht. Sie seien lediglich sichtbarer. Zum einen in Sozialen Netzwerken, zum anderen – ganz aktuell – auf Demonstrationen gegen die CoronaPolitik der Bundesregierung.
Ob der Holocaust im Unterricht zu präsent ist? „Definitiv“, sagt Rukhman. Es reiche ihrer Meinung nach aus, wenn das Thema einmal aufgegriffen werde. Es sei falsch, den Unterricht ausschließlich auf den Holocaust zu reduzieren. Sie würde es begrüßen, wenn eine größere Themenvielfalt abgebildet wird, ergänzt Strelkowa. Der Grund: „Viele haben nur das Bild von ultraorthodoxen Juden vor Augen“– doch es gebe eben auch das andere Extrem: Juden, die ihren Glauben nicht praktizieren. „Und zwischen den beiden Extremen sind natürlich ganz viele Abstufungen“, erklärt die Studentin. Diese im Unterricht aufzuzeigen, sei ebenfalls wichtig.
Michael Koch, pädagogischer Leiter des Museums zur Geschichte von Christen und Juden, ist bereits im vergangenen Jahr mit den Verantwortlichen des Projekts „Meet a Jew“in Kontakt getreten. Die Corona-Pandemie habe die Umsetzung jedoch verzögert. „Umso mehr freue ich mich, dass wir hier in Laupheim nun die Premiere feiern können“, sagt er. „Ich hoffe, dass die Schülerinnen und Schüler viele Aha-Erlebnisse haben.“
Dieses Ziel verfolgen auch Anna Rukhman und Lisa Strelkowa: „Wenn unsere Zuhörer uns nach der Veranstaltung sagen, dass sie jetzt mehr wissen, dann ist das ein tolles Gefühl“– da sind sich die beiden einig.
„Wenn unsere Zuhörer
uns nach der Veranstaltung sagen,
dass sie jetzt mehr wissen, dann ist das ein
tolles Gefühl.“