Schwäbische Zeitung (Biberach)
Riss durch die Gesellschaft
J● oe Biden steht für Kompromiss und Kooperation. Schon im Wahlkampf hat er das Versprechen gegeben, eine zerrissene Nation einen zu wollen. Das ist nun auch der Tenor, der nach dem Votum jedes seiner knappen Statements bestimmt. Man kann ihm abnehmen, dass er es ernst meint. Der ehemalige Senator versteht etwas von der Suche nach Mittelwegen. Er weiß, dass Geduld gefragt ist, wenn dicke Bretter gebohrt werden sollen. Zieht der 77-Jährige ins Weiße Haus ein, übernimmt ein Profi des Politikbetriebs das Staatsruder. Einer, der für die Rückkehr zur Normalität steht, nicht für den Aufbruch zu neuen Ufern. Es wäre in diesen Zeiten schon viel.
Bidens knapper Sieg, wenn er sich denn bestätigt, ändert allerdings nichts an dem Riss, der quer durch die Vereinigten Staaten geht. Donald Trump hat mindestens 68 Millionen Stimmen bekommen, fünf Millionen mehr als 2016. Die hohe Beteiligung ist nicht allein darauf zurückzuführen, dass Alarmierte, die die Zukunft der Demokratie gefährdet sahen, keine weitere vier Jahre mit einem Möchtegern-Monarchen im Weißen Haus riskieren wollten. Auch der Amtsinhaber hat seine Anhänger mobilisiert.
Fast die Hälfte der Wähler hat in Kauf genommen, dass er praktisch täglich die Wahrheit verbog, dass er Regeln brach und bei seinen Attacken keinerlei Hemmschwelle kannte. Trumps Beliebtheitswerte haben die Marke von 50 Prozent nie überschritten. Nur: Seine Basis, die in ihm den furchtlosen, kantigen, gegen den Strich bürstenden Rebellen im Kampf gegen eine bequem gewordene Elite sah, hat ihm die Treue gehalten. Die soziale Ungleichheit, die Angst vor dem Abstieg hat eine große Gruppe weißer Amerikaner ohne College-Abschluss bewogen, Trump zu feiern, als wäre er ihr Retter in höchster Not. In Menschen dunkler Hautfarbe, in Großstädtern, die auf ein Gewehr im Schrank gut verzichten können und sonntags nicht in die Kirche gehen, sehen viele von ihnen, „die anderen“, von denen sie ein breiter Graben trennt. Die Spaltung wird bleiben. Und mit ihr der Nährboden für Populisten.