Schwäbische Zeitung (Biberach)
Was von der Fasnet übrig bleibt
Narren im Südwesten trotzen dem Virus mit Kreativität und Besinnung auf Traditionen
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STUTTGART - Eigentlich wäre Rolf Reitzel am 11.11. beim Frühschoppen gewesen. Bei der Veranstaltung im Aulendorfer Ritterkeller wird traditionell der Repräsentant der Aulendorfer Fasnet, der Burggraf, inthronisiert. Ein Pflichttermin für Reitzel, den Zunftmeister der Narrenzunft. Doch in diesem Jahr ist für die Narren wegen der Corona-Pandemie alles anders. Der Frühschoppen in seiner traditionellen Form ist abgesagt, genau wie das große Landschaftstreffen, zu dem die Aulendorfer Ende Januar rund 25 000 Zuschauer und Teilnehmer erwartet hätten. „Wir wollen uns natürlich an die Regeln halten“, sagt Reitzel. „Aber was bleibt von der Fasnet, wenn man nicht singen darf ? Und wenn der Stuhl des Nebensitzers beim Schunkeln leer bleiben muss?“
Diese Fragen stellen sich derzeit nicht nur die Narren aus Aulendorf. Und obwohl noch nicht klar ist, wie die Corona-Bestimmungen im Januar und Februar, dem Höhepunkt der Fasnet, aussehen werden, sind die Aulendorfer auch nicht die einzigen, die ihre Veranstaltungen bereits abgesagt haben. Der große Narrensprung der Weingartener Plätzlerzunft findet genauso wenig statt wie die großen Umzüge und Fasnetsbälle etwa in Bad Waldsee, Sigmaringen oder Lindau.
Der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha gibt sich betont vorsichtig: „Wenn überhaupt irgendeine Form von Fasnet möglich ist, dann nur entlang der dann jeweils gültigen Pandemiestufe im Land – und das ist abhängig vom Infektionsgeschehen“, sagt er auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. „Aber ich bin mir sicher, dass unsere Zünfte und Narrenvereinigungen verantwortungsbewusste und der jeweiligen Situation entsprechende Entscheidungen treffen werden. Etliche Zünfte und Vereine haben angesichts der historischen Pandemie ja bereits große Veranstaltungen, Narrentreffen und Umzüge für die kommende Fasnets-Saison abgesagt und für sich entschieden, dass das Häs diesmal im Schrank bleibt. Eine unbeschwerte Fasnet im Jahr 2022 wäre aus meiner Sicht für die alle die größtmögliche Belohnung dafür, dass wir uns als Gesellschaft jetzt zusammenreißen und streng an die Maßnahmen halten.“
Tatsächlich hat auch die Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte (VSAN), die ungefähr 70 000 Narren in 75 Zünften im deutschen Südwesten und der deutschsprachigen Schweiz vertritt, bereits alle Narrentreffen der kommenden Saison abgesagt. „Wir wissen, dass wir eine große Verantwortung tragen“, sagt VSAN-Präsident Roland Wehrle. „Bei den ansteigenden Zahlen machen solche Veranstaltungen einfach keinen Sinn. Im Moment fehlt ehrlich gesagt auch die innere Freiheit und Fröhlichkeit.“
Es ist Konsens in der Narrenwelt, dass der Gesundheitsschutz in diesen Zeiten Vorrang hat. Trotzdem: Die Fasnet als Ganzes abzusagen, davon will keiner etwas wissen. „Wir können ja auch Ostern oder Weihnachten nicht absagen. Das sind jahreszeitliche Feste, die fest in den Jahreslauf eingebunden sind“, sagt VSANPräsident Wehrle.
Ähnlich sieht das Werner Mezger. Der Kulturwissenschaftler der Uni Freiburg hat sich wie kaum ein anderer mit der Fasnet beschäftigt. Er sagt: „Klar ist das Gemeinschaftserleben, die bewusste Verringerung der Distanz, ein ganz wesentliches Element der Fasnet, das nicht stattfinden kann. Ich wehre mich aber gegen diese merkwürdige Formulierung, dass die Fasnet abgesagt werden soll. An Fronleichnam kann man die Prozession absagen, aber nicht das Fest als solches. So ist es auch bei der Fasnet.“
Und so grübeln derzeit die Narren im Südwesten, wie sie die anstehende Fasnet pandemiegerecht mit Leben füllen können. „Vielleicht ist das auch die Chance, zu einer ursprünglicheren Fasnet zurückzufinden“, sagt VSAN-Präsident Wehrle. „Ein Fest der Begegnung auf der ganz kleinen Ebene, in der Familie zum Beispiel, nach entsprechenden Tests vielleicht sogar gerade in Altenheimen oder Krankenhäusern.“Es spreche auch nichts dagegen, dass Kinder zum Beispiel am Schmutzigen Donnerstag verkleidet in den Kindergarten oder die Schule kommen. „Der Kern der Fasnet ist schließlich die Begegnung, der Humor und das Beschenken.“
Konkret sind die meisten Pläne noch nicht. Zu unsicher ist die Pandemielage. „Sicherlich ist dieses Jahr des Innehaltens auch ein Jahr der Selbstreflexion, in dem die Narren auch mal über andere Formate nachdenken können“, sagt Kulturwissenschaftler Mezger. Er sieht in der Pandemie sogar eine Chance. „Um seine Heimat schätzen zu lernen, muss man mal weg gewesen sein. Wer einmal fort war und mehr von der Welt gesehen hat, kann die Heimat im Kontrast zur Welt wieder besser erkennen und vielleicht auch mehr schätzen. Genauso ist es mit der Fasnet. Zu schätzen, was man an der Fasnet hat, lernt man dann besonders intensiv, wenn man mal auf bestimmte lieb gewordene Teile davon verzichten muss. 2021 werden sich viele Menschen überlegen, was sie an der Fasnet vermissen. Das steigert letztlich ihren Wert.“
Vor genau 30 Jahren haben die Narren in Deutschland eine ähnliche Erfahrung gemacht. 1991 wurde die Fasnet wegen des Golfkriegs nicht gefeiert. „Ein Jahr später, bei der Fasnet 1992, hat man dann richtig gespürt, wie groß die Sehnsucht ist, dieses Fest wieder gemeinschaftlich mit aller Ausgelassenheit und aller Freude zu feiern“, sagt Roland Wehrle. Er setzt seine Hoffnungen deshalb genau wie der Gesundheitsminister in das übernächste Jahr. „Ich gehe davon aus, dass wir im Jahr 2022 eine ganz besondere Fasnet erleben werden und ich gehe auch davon aus, dass sich der ein oder andere darauf zurückbesinnt, worum es bei der Fasnet eigentlich geht“, sagt Wehrle. „Und bis dahin müssen wir jetzt einfach geduldig sein und uns andere Wege überlegen.“
Die Narrenzunft Aulendorf hat einen kreativen Weg gefunden, den Frühschoppen am 11.11. trotz Pandemie stattfinden zu lassen. Ab 11.11 Uhr können Interessierte die Inthronisierung des Hofstaats live bei Facebook und auf der Internetseite der Narrenzunft verfolgen. Echte Narren sind dabei jedoch keine vor Ort. Sie sind pandemiegerecht ersetzt – durch Playmobilfiguren.