Schwäbische Zeitung (Biberach)
Streit, Ängste, Ärger
Experten warnen vor Zunahme von Gewalt in Familien durch die Corona-Krise – Behörden befürchten hohe Dunkelziffer
●
RAVENSBURG - Das Coronavirus birgt für Kinder und Jugendliche ganz eigene Gefahren. Zwar macht es sie für gewöhnlich nicht so schwer krank wie Erwachsene. Dafür aber leiden junge Menschen in besonderem Maße unter Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen, der Angst um Familienangehörige oder den finanziellen Einbußen der Eltern. Zudem befürchten Experten innerhalb von Familien mehr Gewalt und Konflikte während der Corona-Pandemie.
Solche Auseindersetzungen entstehen in einer Ausnahmesituation wie der Corona-Krise schnell. Besonders, wenn das Geld knapp ist. „Eine Familie musste sich während der Schulschließungen Geld für einen Drucker leihen, damit das Kind die Hausaufgaben erledigen kann“, erzählt Julia Wahnschaffe, Geschäftsführerin des baden-württembergischen Landesverbands des Kinderschutzbundes. „Die Hausaufgaben hat das Kind dann aber nicht gemacht“, berichtet sie. Daraufhin sei die Lage in der Familie eskaliert.
Während der Schul- und Kitaschließungen in der ersten Jahreshälfte mussten Kinder und ihre Eltern über Monate Zeit zu Hause verbringen – oft ohne Kontakt zu Freunden oder einen geregelten Tagesablauf. Experten gingen daher nach dem ersten Lockdown im Frühjahr von mehr häuslicher Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aus. Eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter den Innenministerien im Juli hatte ergeben, dass einige Bundesländern bereits einen Anstieg verzeichnen.
Ob das auch für den Süden Deutschlands zutrifft, lässt sich allerdings noch nicht genau sagen. Ein landesweiter Anstieg sei laut badenwürttembergischen Sozialministerium bislang nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil: Eine freiwillige Zusatzerhebung des Bundesfamilienministeriums bei den Jugendämtern habe gezeigt, dass die Fallzahlen geringer ausfielen als erwartet. „Dies deutet darauf hin, dass das Dunkelfeld, das heißt die Zahl der nicht entdeckten Kindeswohlgefährdungen, gewachsen sein könnte“, erklärt ein Sprecher des Sozialministeriums.
Dies befürchtet auch Kinderschutzbund-Chefin Wahnschaffe. „Nur weil ihre Zahl rückläufig ist, heißt es nicht, dass sie nicht stattgefunden haben“, erläutert sie. Denn für gewöhnlich melden Lehrer und Erzieher den Jugendämtern auffällige Beobachtungen. Doch Schulen und Kitas
waren über Monate geschlossen. Nachdem diese wieder geöffnet waren, hätten Jugendämter und Beratungsstellen wieder mehr Meldungen erhalten. Auch Bayern hat im Juli und August mehr Kindeswohlgefährdungen verzeichnet, wie Sabine AhlersReimann
sagt. Sie ist beim bayerischen Landkreistag zuständig für die Jugendämter der Landkreise und erklärt, dass ein solcher Anstieg für den Sommer normal sei. „Daher können wir derzeit nicht sagen, dass wir flächendeckend mehr Gefährdungsmeldungen
wegen der Corona-Pandemie haben“, sagt Ahlers-Reimann. Was jedoch ein Anhaltspunkt sein könne, seien die Meldungen bei den Kinderund Jugendärzten, erklärt sie und verweist auf eine SPD-Anfrage im bayerischen Landtag. Demnach erfasste die
Kinderschutzambulanz München zwischen Januar und Mai 2020 etwas mehr Fälle als im Vorjahreszeitraum.
Anderen Indizien deuten ebenfalls den Leidensdruck durch die CoronaKrise an. So zeigt eine Umfrage unter den 60 baden-württembergischen
Orts- und Kreisverbänden des Kinderschutzbundes, dass die Situation für junge Menschen schlechter geworden ist. „Die Hälfte der Verbände hat geantwortet, dass sich die Gefährdungssituation für Kinder verschärft hat, Schulprobleme haben um 95 Prozent zugenommen, Vereinsamung um 80 Prozent und Verhaltensauffälligkeiten um 55 Prozent“, erzählt Wahnschaffe. Dazu kämen Bewegungsmangel und erhöhter Medienkonsum. „In den Familien, mit denen wir Kontakt haben, haben sich viele Probleme verschlechtert.“
Vor allem in ärmeren Familien würde die Krise wie ein Brennglas wirken, soziale Unterschiede würden noch größer. „Die Folgen halten langfristig an. Denn viele haben eine lange Zeit keinen dringend benötigten Förderunterricht und Sprachförderung bekommen“, sagt Wahnschaffe.
Doch auch seelisch macht es Kindern und Jugendlichen zu schaffen, wenn die Schule schließt und sie ihre Freunde nicht sehen dürfen. „Studien zeigen, dass sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Krise verschlechtert hat“, erklärt Vera Clemens von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ulm. So litten junge Menschen während der Pandemie häufiger unter depressiven Symptome, Ängsten und Hyperaktivität.
Vor allem Jugendliche bräuchten in dieser sensiblen Phase des Erwachsenwerdens Kontakt zu ihren Bezugsgruppen. „Das sieht man auch daran, dass sich Jugendliche trotzdem Kontakt zu ihren Freunden suchen. Das ist ein verständliches Anliegen“, sagt Clemens. Doch diese Treffen mit Gleichaltrigen fehlten durch die Corona-Beschränkungen. Hinzu kämen mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, wenn Familien den ganzen Tag gemeinsam daheim seien. Das würde den Teenagern zusätzlich zu schaffen machen und zu Konflikten in der Familie führen.
Die langfristigen psychischen Folgen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche werden noch erforscht. „Von anderen Belastungen im Kinderund Jugendbereich wissen wir aber, dass einige damit sehr gut zurechtkommen, andere jedoch unter Langzeitfolgen leiden“, sagt Clemens. Das beträfe vor allem Jungen und Mädchen, die wenig Unterstützung bekommen, oder bei denen noch weitere Belastungen, wie zum Beispiel Gewalt in der Familie, bestehen.