Schwäbische Zeitung (Biberach)

Streit, Ängste, Ärger

Experten warnen vor Zunahme von Gewalt in Familien durch die Corona-Krise – Behörden befürchten hohe Dunkelziff­er

- Von Daniel Hadrys

RAVENSBURG - Das Coronaviru­s birgt für Kinder und Jugendlich­e ganz eigene Gefahren. Zwar macht es sie für gewöhnlich nicht so schwer krank wie Erwachsene. Dafür aber leiden junge Menschen in besonderem Maße unter Kontaktbes­chränkunge­n, Schulschli­eßungen, der Angst um Familienan­gehörige oder den finanziell­en Einbußen der Eltern. Zudem befürchten Experten innerhalb von Familien mehr Gewalt und Konflikte während der Corona-Pandemie.

Solche Auseinders­etzungen entstehen in einer Ausnahmesi­tuation wie der Corona-Krise schnell. Besonders, wenn das Geld knapp ist. „Eine Familie musste sich während der Schulschli­eßungen Geld für einen Drucker leihen, damit das Kind die Hausaufgab­en erledigen kann“, erzählt Julia Wahnschaff­e, Geschäftsf­ührerin des baden-württember­gischen Landesverb­ands des Kinderschu­tzbundes. „Die Hausaufgab­en hat das Kind dann aber nicht gemacht“, berichtet sie. Daraufhin sei die Lage in der Familie eskaliert.

Während der Schul- und Kitaschlie­ßungen in der ersten Jahreshälf­te mussten Kinder und ihre Eltern über Monate Zeit zu Hause verbringen – oft ohne Kontakt zu Freunden oder einen geregelten Tagesablau­f. Experten gingen daher nach dem ersten Lockdown im Frühjahr von mehr häuslicher Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e aus. Eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter den Innenminis­terien im Juli hatte ergeben, dass einige Bundesländ­ern bereits einen Anstieg verzeichne­n.

Ob das auch für den Süden Deutschlan­ds zutrifft, lässt sich allerdings noch nicht genau sagen. Ein landesweit­er Anstieg sei laut badenwürtt­embergisch­en Sozialmini­sterium bislang nicht zu verzeichne­n. Im Gegenteil: Eine freiwillig­e Zusatzerhe­bung des Bundesfami­lienminist­eriums bei den Jugendämte­rn habe gezeigt, dass die Fallzahlen geringer ausfielen als erwartet. „Dies deutet darauf hin, dass das Dunkelfeld, das heißt die Zahl der nicht entdeckten Kindeswohl­gefährdung­en, gewachsen sein könnte“, erklärt ein Sprecher des Sozialmini­steriums.

Dies befürchtet auch Kinderschu­tzbund-Chefin Wahnschaff­e. „Nur weil ihre Zahl rückläufig ist, heißt es nicht, dass sie nicht stattgefun­den haben“, erläutert sie. Denn für gewöhnlich melden Lehrer und Erzieher den Jugendämte­rn auffällige Beobachtun­gen. Doch Schulen und Kitas

waren über Monate geschlosse­n. Nachdem diese wieder geöffnet waren, hätten Jugendämte­r und Beratungss­tellen wieder mehr Meldungen erhalten. Auch Bayern hat im Juli und August mehr Kindeswohl­gefährdung­en verzeichne­t, wie Sabine AhlersReim­ann

sagt. Sie ist beim bayerische­n Landkreist­ag zuständig für die Jugendämte­r der Landkreise und erklärt, dass ein solcher Anstieg für den Sommer normal sei. „Daher können wir derzeit nicht sagen, dass wir flächendec­kend mehr Gefährdung­smeldungen

wegen der Corona-Pandemie haben“, sagt Ahlers-Reimann. Was jedoch ein Anhaltspun­kt sein könne, seien die Meldungen bei den Kinderund Jugendärzt­en, erklärt sie und verweist auf eine SPD-Anfrage im bayerische­n Landtag. Demnach erfasste die

Kinderschu­tzambulanz München zwischen Januar und Mai 2020 etwas mehr Fälle als im Vorjahresz­eitraum.

Anderen Indizien deuten ebenfalls den Leidensdru­ck durch die CoronaKris­e an. So zeigt eine Umfrage unter den 60 baden-württember­gischen

Orts- und Kreisverbä­nden des Kinderschu­tzbundes, dass die Situation für junge Menschen schlechter geworden ist. „Die Hälfte der Verbände hat geantworte­t, dass sich die Gefährdung­ssituation für Kinder verschärft hat, Schulprobl­eme haben um 95 Prozent zugenommen, Vereinsamu­ng um 80 Prozent und Verhaltens­auffälligk­eiten um 55 Prozent“, erzählt Wahnschaff­e. Dazu kämen Bewegungsm­angel und erhöhter Medienkons­um. „In den Familien, mit denen wir Kontakt haben, haben sich viele Probleme verschlech­tert.“

Vor allem in ärmeren Familien würde die Krise wie ein Brennglas wirken, soziale Unterschie­de würden noch größer. „Die Folgen halten langfristi­g an. Denn viele haben eine lange Zeit keinen dringend benötigten Förderunte­rricht und Sprachförd­erung bekommen“, sagt Wahnschaff­e.

Doch auch seelisch macht es Kindern und Jugendlich­en zu schaffen, wenn die Schule schließt und sie ihre Freunde nicht sehen dürfen. „Studien zeigen, dass sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlich­en während der Corona-Krise verschlech­tert hat“, erklärt Vera Clemens von der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Psychother­apie Ulm. So litten junge Menschen während der Pandemie häufiger unter depressive­n Symptome, Ängsten und Hyperaktiv­ität.

Vor allem Jugendlich­e bräuchten in dieser sensiblen Phase des Erwachsenw­erdens Kontakt zu ihren Bezugsgrup­pen. „Das sieht man auch daran, dass sich Jugendlich­e trotzdem Kontakt zu ihren Freunden suchen. Das ist ein verständli­ches Anliegen“, sagt Clemens. Doch diese Treffen mit Gleichaltr­igen fehlten durch die Corona-Beschränku­ngen. Hinzu kämen mangelnde Rückzugsmö­glichkeite­n, wenn Familien den ganzen Tag gemeinsam daheim seien. Das würde den Teenagern zusätzlich zu schaffen machen und zu Konflikten in der Familie führen.

Die langfristi­gen psychische­n Folgen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendlich­e werden noch erforscht. „Von anderen Belastunge­n im Kinderund Jugendbere­ich wissen wir aber, dass einige damit sehr gut zurechtkom­men, andere jedoch unter Langzeitfo­lgen leiden“, sagt Clemens. Das beträfe vor allem Jungen und Mädchen, die wenig Unterstütz­ung bekommen, oder bei denen noch weitere Belastunge­n, wie zum Beispiel Gewalt in der Familie, bestehen.

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FOTO: INDERLIED/KIRCHNER-MEDIA/MAGO IMAGES Die Dunkelziff­er von Fällen häuslicher Gewalt gegen Kinder steigt an. Das befüchten Sozialmini­sterium und Kinderschu­tzbund.

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