Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Schulden der Deutschen
Corona lässt Privatinsolvenzen ansteigen – Süden steht im bundesweiten Vergleich gut da
●
BERLIN/RAVENSBURG - Jeder zehnte Erwachsene in Deutschland steckt tief in den roten Zahlen. Derzeit zählt die Auskunftei Creditreform 6,85 Millionen überschuldete Personen, dies sind 69 000 weniger als im Vorjahr. Als überschuldet gelten Haushalte, die ihre Rechnungen längere Zeit nicht mehr oder nicht pünktlich begleichen können. Totz des Rückgangs bei der Zahl der überschuldeten Personen: „Der vermeintlich positive Befund ist kein Zeichen der Entspannung“, warnt Patrik-Ludwig Hantzsch, Chef der Forschung bei Creditreform, eindringlich. Die langfristigen Perspektiven seien besorgniserregend. Denn die Einkommensverluste durch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie könnten von den unteren sozialen Schichten nicht ausgeglichen werden, befürchtet der Chef der Auskunftei, Stephan Vila.
Der jüngste Schuldenatlas des Unternehmens weist große regionale Unterschiede aus. Trauriges Schlusslicht unter den Kreisen und kreisfreien Städte bildet Bremerhaven. Dort ist mehr als jeder fünfte Erwachsene überschuldet. Knapp unter der Marke von 20 Prozent liegen Neumünster, Pirmasens, Herne und Gelsenkirchen.
Anders hingegen sieht es im Süden Deutschlands aus: Die 20 am wenigsten vom Problem betroffenen Kreise und Städte liegen allesamt in Bayern. In Bayern ist der Anteil der überschuldeten Bürger mit 7,1 Prozent geringer als in allen anderen Bundesländern. Spitzenreiter ist der Landkreis Eichstätt mit einer Überschuldungsquote von nur vier Prozent.
In den Top-100 folgen dann vor allem Regionen in Baden-Württemberg. Auch hier hält sich die Zahl der überschuldeten Haushalte in Grenzen. Die Zahl der Menschen im Südwesten, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, liegt laut der Studie bei rund 750 000 Baden-Württembergern über 18 Jahren – 8000 weniger als vor einem Jahr. Die Überschuldungsquote sank auf nun 8,11 Prozent. Das ist im Vergleich der Bundesländer weiter der zweitbeste Wert hinter Bayern mit 7,14 Prozent, wie aus den am Dienstag veröffentlichten Zahlen hervorgeht.
Eine Veränderung beobachten die Forscher bei der Verschuldung einzelner Altersgruppen. „Das Phänomen der Altersüberschuldung gewinnt noch stärker als in den Vorjahren an Bedeutung", erläutert Michael Goy-Yun, Geschäftsführer von Creditreform. Allein in den vergangenen zwölf Monaten stieg die Zahl der überschuldeten Senioren ab 70 der Studie zufolge um 23 Prozent. Parallel erhöhte sich in der Altersgruppe der 60 bis 69-Jährigen die Zahl der Überschuldungsfälle um 13 Prozent auf rund 725 000.
Mit dieser Einschätzung steht Creditreform nicht allein. Auch die Tafeln in Deutschland berichten über eine wachsende Not bei älteren Mitbürgern. Die Anzahl der Senioren, die bei den Tafeln Lebensmittel abholten, sei „innerhalb nur eines Jahres alarmierend gestiegen“, erklärte der Vorsitzende der Tafel Deutschland, Jochen Brühl. Bereits in 15 Jahren könne jede fünfte Rentnerin oder jeder fünfte Rentner von Altersarmut bedroht sein.
Hinzu kommt nun noch die Corona-Pandemie: In den kommenden
Monaten rechnen die Experten mit einem erheblichen Anstieg bei den Privatinsolvenzen. Dazu wird alleine schon eine Gesetzesänderung beitragen. Seit diesem Oktober kann die Restschuldbefreiung schon nach drei Jahren erfolgen.
Deshalb haben viele Schuldner noch mit dem Antrag gewartet. 2021 werden schließlich die Folgen der Einkommensverluste in Folge der Pandemie zu mehr Privatinsolvenzen führen. „Schätzungen zufolge kämpfen derzeit zwei Millionen Freiberufler und Selbständige um ihre Existenz und stehen am Rande der Überschuldung", warnt Creditreform.
Auch die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen betrachtet die zu erwartende Entwicklung mit Sorge. „Schon jetzt verzeichnen wir eine steigende Nachfrage von Menschen, die in eine finanzielle Schieflage geraten sind", sagt ihr Insolvenzexperte Christoph Zerhusen. Im kommenden Jahr sei mit einem sprunghaften Anstieg der Problemfälle zu rechnen. Zerhusen rät Betroffenen, sich möglichst frühzeitig an eine Beratungsstelle zu wenden.
Dagegen fordert die Initiative Finanzwende eine stärkere Regulierung der kreditgebenden Banken. „Statt mit überzogenen Inkassokosten, überhöhten Dispozinsen und einer unverantwortlichen Kreditvergabe immer wieder zur Überschuldung beizutragen, muss die Finanzbranche gerade in dieser Krise ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden“, verlangt der Verbraucherexperte der Initiative, Julian Merzbacher.
Die Politik müsse eine überzeugende Antwort auf das Problem geben. „Es entsteht eine gefährliche Schieflage, wenn in der Corona-Krise Milliarden in Unternehmensrettungen fließen“, warnt er, "während Überschuldete vielfach allein zurückgelassen werden.“Finanzwende plädiert für einen Zinsdeckel beim Dispo und eine Begrenzung von Inkassogebühren.
Wie hat sich die Schuldensituation in den vergangenen Jahren verändert und welche Werte gibt es für Ihren Landkreis? Wir zeigen es Ihnen unter www.schwäbische.de/ schulden2020