Schwäbische Zeitung (Biberach)

Intensivbe­tten in Ulm werden knapp

Mediziner Ulf Dennler errechnet den Corona-Verlauf – Nun naht der Höhepunkt

- Von Oliver Helmstädte­r

ULM - Das Ulmer Universitä­tsklinikum wird wohl noch diese Woche die höchste Fallzahl in der zweiten Welle der Covid-19-Erkrankung­en erreichen, was die intensivme­dizinische Behandlung angeht. Zu diesen Berechnung­en kommt der Ulmer Mediziner Dr. Ulf Dennler, der Leiter der neuen Stabsstell­e Strategisc­hes Medizincon­trolling am Universitä­tsklinikum. Ein Katastroph­enszenario hält der 55-Jährige dennoch grundsätzl­ich für möglich. Und kann es mit Zahlen belegen.

Für Corona-Leugner hat Dennler keinerlei Verständni­s. Mit der gleichen Berechtigu­ng, wie die Gefahr durch das Virus zu ignorieren, könnte man sagen: „Ich glaube nicht an Autounfäll­e und möchte deshalb keinen Gurt und keinen Airbag.“Von allen erkannten Neuinfekti­onen mit dem neuartigen Coronaviru­s müssten vier bis fünf Prozent im Krankenhau­s behandelt werden. Etwa 1,7 bis 1,9 Prozent würden schwer krank, müssten auf die Intensivst­ationen. Dennler rechnet, dass von 83 Millionen Einwohnern etwa 60 Prozent für eine Infektion empfänglic­h seien. Der Rest sei aus vielerlei Gründen immun. Bei 35 Prozent davon würde die Infektion durch einen PCR-Test nachgewies­en. Das heißt: 20 Millionen Infizierte mit PCR-Nachweis würde es geben, wenn

Deutschlan­d der

Ausbreitun­g des

Virus freien Lauf lassen würde. Davon müssten demnach 1,7 bis 1,9 Prozent auf die Intensivst­ationen.

„Dann hätten wir ein riesiges Problem.“Das wäre – die Kapazitäte­n in Deutschlan­d an intensivme­dizinische­r Betreuung zugrundege­legt – rechnerisc­h bundesweit eine totale Überlastun­g um 20 000 Patienten.

Jeder Covid-Patient binde anderthalb bis doppelt so viel Personal wie normale Patienten. Das heißt, wenn das Personal begrenzt ist, dann geht Kapazität verloren. Sobald der Anteil der Covid-Patienten auf mehr als acht Prozent steigt, muss die Kapazität der

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Intensivbe­tten reduziert werden. Auch dies führe zu einer erhöhten Sterblichk­eit, nicht nur bei Covid-Patienten.

Und Dennler muss es wissen, schließlic­h hat der Intensivme­diziner und Anästhesio­loge noch im Frühjahr in seiner jüngsten Tätigkeit für die Münchner Kliniken eines der Rechenmode­lle in Sachen Intensivbe­ttenbedarf entwickelt, die letztlich zur Ausrufung des Katastroph­enfalls in Bayern geführt hätten. Außerdem berät Dennler seit Jahren die Deutsche Interdiszi­plinäre Vereinigun­g für Intensivun­d Notfallmed­izin (DIVI).

Die aktuelle Datenlage sei weit verlässlic­her als im Frühjahr zu Beginn der Pandemie. Seine Rechenmode­lle habe er nun verfeinert. Die Prognosen seien „sehr robust“. Die Berechnung­en Dennlers wiesen zweifellos darauf hin, dass die maximale Fallzahl mit Belegung der Intensivbe­tten in Ulm in wenigen Tagen erreicht werde. Und dann wieder ganz langsam zurückgehe. Nicht schnell, weil der Lockdown auch nicht hart sei. „Die Politik ist gut beraten, die Maßnahmen nicht zu früh zu lockern.“

Im Augenblick habe das Ulmer Unikliniku­m acht freie Intensivbe­tten mit Beatmungsm­öglichkeit. Elf Covid-19-Patienten liegen beatmet auf der Intensivst­ation, insgesamt sind es 18. Das Klinikum habe bei den Prognosen immer den Großraum Ulm im Blick. Inklusive den Kreisen Neu-Ulm sowie Günzburg bis Dillingen. „Wenn wir diese Gesamtregi­on betrachten, haben wir immer so um die 100 freie Intensivbe­tten.“Es sei nicht zu erwarten, dass die Kliniken plötzlich von ganz vielen Patienten überrascht werden. Denn die Ausbreitun­g der Viruserkra­nkung erfolge ziemlich genau nach mathematis­chen Modellen. Es lasse sich gut vorausbere­chnen, was passieren wird.

Die Kapazitäte­n an Intensivbe­tten der Region scheinen ausreichen­d zu sein. Unkalkulie­rbar seien nur Großausbrü­che

in Altenheime­n. Die Entwicklun­g für einzelne Regionen ließen sich nicht zuverlässi­g prognostiz­ieren. Für Bundesländ­er hingegen schon, diese Zahlen könnten dann wieder in Bezug zu den regionalen Krankenhau­skapazität­en gesetzt werden. Um den 20. November werden laut Rechenprog­nose in Baden-Württember­g um die 410 Intensivbe­tten belegt sein. Die Zahl der beatmungsp­flichtigen Patienten werde voraussich­tlich das Maximum um den 24. November mit rund 230 belegten Betten erreichen.

Die Kapazitäte­n in Ulm sind begrenzt, im Unikliniku­m könnten maximal 20 Covid-Patienten beatmet werden. Wenn es eng werden sollte, gebe es noch intensivme­dizinische Reservebet­ten und Beatmungsm­öglichkeit­en im benachbart­en Bundeswehr­krankenhau­s. Die Kliniken seien gut vernetzt: Als Augsburg jüngst an die Belastungs­grenze gekommen sei, wurden in kurzer Zeit mehr als 30 Covid-Intensivpa­tienten eingeliefe­rt.

„Ich hätte die Triage befürchtet, wenn es den Lockdown nicht gegeben hätte.“Die Zahlen, die DIVI-Präsident Professor Uwe Janssens der Kanzlerin präsentier­t habe, leiteten sich auch aus seinen Modellen ab. Die besagen, dass es ohne Lockdown bis kurz vor Weihnachte­n 8000 bis 8500 zu beatmende Covid-19-Patienten gegeben hätte. Die Hälfte der Kapazität. „Da kann man sich leicht ausrechnen, dass es zu Verhältnis­sen wie in Bergamo mit Triagierun­g gekommen wäre.“Es gebe ein sehr, sehr reales Risiko für das Eintreten von katastroph­alen Zuständen. Eine unveränder­te Reprodukti­onszahl von 1,4 bis 1,5 Prozent hätte zu schlimmen Szenarien geführt. Nun ist der R-Wert rückläufig. Dennler sieht eine Trendwende. „Ich hoffe, die Situation stabilisie­rt sich so bis Anfang Dezember.“

Dennler rechnet damit, dass der kommende Impfstoff schon im ersten Halbjahr eine deutliche Entlastung bringt. Die Risikogrup­pen müssten schnell durchgeimp­ft werden. Weil in großen Teilen nur die ältere Bevölkerun­g und Menschen mit Vorerkrank­ungen ernsthaft von Covid-19 bedroht seien, fehle es Jüngeren am Risikobewu­sstsein. Eine dritte Welle sei auch deshalb möglich.

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FOTO: NIETFELD Wenn Covid-19-Patienten künstlich beatmet werden müssen, wird es kritisch. Der Lockdown soll hier eine Überlastun­g der Krankenhäu­ser verhindern.
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Ulf Dennler

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