Schwäbische Zeitung (Biberach)
Sorge vor „Impfpflicht durch die Hintertür“
Inzidenzwert für den Kreis Sigmaringen sinkt unter 50 – Doch das beruhigt nicht alle
●
SIGMARINGEN - Über „Corona und die Bürgerrechte“hat am Mittwochabend eine Handvoll Experten aus der Region diskutiert. Mit dabei waren Landrätin Stefanie Bürkle, der Verwaltungsgerichtspräsident Christian Heckel, der evangelische Theologe und Pfarrer Matthias Ströhle, der Historiker und Kreisarchivar Edwin Ernst Weber, die Leiterin der Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Sigmaringen, Brigitte Hepp, sowie der kritische Journalist Rüdiger Sinn. Die Moderation übernahm der katholische Theologe Hermann Brodmann, unterstützt wurde er dabei vom Leiter des katholischen Bildungszentrums, Gorheim Clemens Mayer.
Live auf Youtube konnten Zuschauer die Veranstaltung verfolgen, die im Rahmen der Reihe „Kulturelle Seelsorge in Corona-Zeiten“des Kreiskulturforums und des ökumenischen Arbeitskreises stattfand.
So richtig kontrovers versprach die Diskussion nicht zu werden, zumindest nicht in Bezug auf die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung. Denn gleich in der Eröffnungsrunde brachten alle Teilnehmer ihr prinzipielles Einverständnis mit den Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung
zum Ausdruck. Allein der Journalist Rüdiger Sinn stellte die Konsequenz und Verhältnismäßigkeit einzelner Einschränkungen infrage, ein Punkt, den Landrätin Stefanie Bürkle ihm kampflos überließ.
Momentan funktioniere die Pandemiebekämpfung im Kreis Sigmaringen gut, sagte sie, der 7-Tages-Inzidenzwert des Kreises Sigmaringen liege mit unter 50 weit unter dem landesweiten Durchschnitt von 133,9. „Doch im Frühjahr gab es Tage, an denen mir nicht mehr ganz wohl war“, erinnert sich die Landrätin. Schlaflose Nächte hätten ihr damals die intensivmedizinischen Kapazitäten
des Kreises bereitet, die kurz vor der Überlastung gestanden hätten. Mit Blick auf Weihnachten sagte die Landrätin: „Wir im Landratsamt hätten uns gewünscht, dass die Beschränkungen auch an den Feiertagen so streng wie möglich bleiben.“Denn auch über die Feiertage seien dort Beamte im unermüdlichen Einsatz bei der Verfolgung der Infektionsketten. Und die Lockerungen hätten in Bezug auf die Eindämmung der Corona-Pandemie ihren Preis. Gleichwohl verstehe und akzeptiere sie jedoch das gesellschaftliche Bedürfnis, dem die Regierung mit den Lockerungen über Weihnachten Rechnung trage, um die Akzeptanz der Bürger nicht zu verlieren.
Die Zuschauer der Diskussion wandten sich mit Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der CoronaMaßnahmen und Sorge über Eingriffe in die Grundrechte an die Teilnehmer. Von einem „Versagen des Rechtsstaats“oder „Corona-Diktatur“könne keine Rede sein, antwortete Verwaltungsgerichtspräsident Heckel. Im Gegenteil, gerade jetzt in der Krise beweise dieser seine Beständigkeit. So würde jede einzelne Corona-Maßnahme der Behörden auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft, um Grundrechte nicht weiter einzuschränken als zur Gefahrenabwehr nötig. Auch Demonstrationen der
Querdenker-Bewegung dürften weiterhin stattfinden, aber eben mit Maskenpflicht und Abstand oder wie in Ulm als Autokorso, jedoch nicht während des Feierabendverkehrs.
Moderator Hermann Brodman fragte Heckel nach der Möglichkeit einer Impfpflicht. Grundsätzlich verfassungswidrig und damit unmöglich sei eine Einführung nicht, antwortete Heckel, zumal dies bei Pocken und Polio bereits geschehen sei. Jedoch stelle eine Impfpflicht gegen das Coronavirus einen Eingriff in die körperliche Integrität dar und müsse deshalb unbedingt durch das Parlament beschlossen sowie anschließend durch das Bundesverfassungsgericht geprüft werden.
Eine Zuschauerin äußerte die Befürchtung, dass eine Impfpflicht „durch die Hintertür“eingeführt werden könne, etwa durch ein Flugverbot für Nicht-Geimpfte. Grundsätzlich könne es der Staat keiner Fluggesellschaft verbieten, eine solche Regelung einzuführen, doch die Vertragsfreiheit müsse gewährleistet bleiben, antwortete Heckel.
Der evangelische Pfarrer Matthias Ströhle beklagte, dass bei der Verfolgung von Verstößen gegen die Corona-Verordnung die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibe. Während viele penibel auf den Infektionsschutz achteten, würden Verstöße Einzelner
gegen die Corona-Verordnung kaum geahndet. Stattdessen werde die Allgemeinheit mit immer strengeren Einschränkungen bestraft. Diese Entwicklung werde zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft führen, warnte er.
„Wir leben in einer krisenunerfahrenen Gesellschaft“, sagte der Kreisarchivar Edwin Ernst Weber. Im Vergleich zu unseren Vorfahren sei die Gefahr, im Deutschland der Gegenwart durch Seuchen, Krieg oder Naturkatastrophen ums Leben zu kommen, auf historisch niedrigstem Niveau.
Da sei es kein Wunder, dass die Menschen nun teils nach Sündenböcken für ihre missliche Lage suchten und dadurch begännen, an Verschwörungsmythen zu glauben. Auch dafür gäbe es in der Geschichte zahlreiche Beispiele: So sei etwa ein Zusammenhang zwischen Judenverfolgungen und Hexenwahn mit den Pestwellen und Missernten des Mittelalters und der frühen Neuzeit feststellbar.
„In der Pandemie wird der Zusammenhalt und damit letztlich auch der Wert einer Gesellschaft auf die Probe gestellt“, so Weber. Aber aus der Geschichte könne man auch lernen, dass sich Krisen am besten durch solidarisches Verhalten bewältigen ließen.