Schwäbische Zeitung (Biberach)
Bleib‘ nicht stehen!
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Das alte Jahr liegt hinter Dir. Vielleicht bist Du froh, dass es herum ist. Vielleicht trauerst Du um verlorene Menschen und verpasste Chancen. Vielleicht hoffst Du, dass es nun bergauf geht. Ob Du es willst oder nicht – so ein neues Jahr lädt ein zum Neubeginn. Ich wünsche Dir dazu Gottes Segen und auch „Gnade“(bedeutet: Ich wünsche Dir, dass Gott Dich mit etwas richtig Gutem überrascht). Unter Umständen kannst Du das schon nicht mehr hören, weil es Dir so abgegriffen vorkommt. Aber es ist mir sehr ernst damit. Warum? Ich denke, alle Menschen sind unterwegs zu einem Ziel hin – ohne oft genau zu wissen, was dieses Ziel ihrer Suche denn genau ist. Es braucht manchmal nicht viel, um resigniert stehen zu bleiben oder vom Weg abzukommen. Manchmal ist der Weg so beschwerlich, dass man bitter im Herzen wird. Dom Helder
Camara, ein brasilianischer Geistlicher, notierte einmal: „Nein, bleib nicht stehen! Es ist eine göttliche Gnade, gut zu beginnen. Es ist eine größere Gnade, auf dem guten Weg zu bleiben. Aber die Gnade der
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Gnaden ist es, sich nicht zu beugen und, ob auch zerbrochen und erschöpft, vorwärtszugehen bis zum Ziel.“
Camara hatte sich dies nicht am Schreibtisch aus den Fingern gesogen – er wusste wovon er sprach. Er hatte sich zeitlebens für die Armen Brasiliens eingesetzt, gegen den Widerstand der Militärdiktatur und seiner eigenen Kirche. Was hat ihm geholfen, bis zum Ziel gehen zu können? Ich kann es mir nicht anders erklären, als damit, dass er sich auf seinem Lebensweg allezeit von Gott umfangen wusste.
Was bedeutet das für Dich? Dass es wichtig ist, in seinem Leben „Gnade“zu erfahren! Aber wie kann das gehen? Ein erster Wink: Indem Du mehr die Stille suchst, in Dich hineinhörst, versuchst, der Stimme Gottes nach zu lauschen, die tief in Deinem Herzen, Deinen Träumen, Gedanken und Gebeten tönt.
Ich wünsche auch der Kirche, dass sie nicht stehen bleibt. Mir scheint manchmal, sie kommt nicht mehr recht vom Fleck, wie ein Gefährt, das im Schlamm steckt und mit jedem Aufheulen des Motors immer tiefer im Morast versinkt. Von der einen Seite tönt es, die Kirche und ihr Christentum seien immer noch zu sehr eine koloniale, repressive und strukturell Gewalt ausübende Institution. Die anderen schreien, dass die Kirche zu sehr dem „Zeitgeist“verfallen und ihr Glaubensfeuer erloschen sei. Man wirft ihr ferner vor, sie komme ihrer Aufgabe nicht (mehr) nach, ein emotionales und moralisches Bollwerk wider die Vereinzelung und innere Heimatlosigkeit zu sein.
Wie es weitergeht? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich wünsche mir, etwas von Camaras wachem und zuversichtlichem Geist möge auch auf mein (und auch Dein?) suchendes und tastendes Leben abfärben.