Schwäbische Zeitung (Biberach)
Keine Hoffnung für den kranken Sohn
Eine Mutter aus Georgien sucht mit ihren Kindern in Deutschland Hilfe – Über Nacht werden sie jedoch abgeschoben
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enn Ilona Khotchava über jene Nacht zum 2. Dezember 2020 spricht, muss sie um jedes ihrer Worte ringen. Dann sind über das Telefon ihr schwerer Atem zu hören und eine brüchige Stimme. Die von Tränen und Verzweiflung einer Mutter zeugen, deren Glaube an eine Zukunft langsam erlischt. „Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Situation leben soll“, sagt die 31Jährige.
Ihr Trauma begann in jener Nacht Anfang Dezember, als Beamte sie unangekündigt in ihrer Wohnung in Markdorf aufsuchten, um die sofortige Abschiebung nach Georgien zu vollziehen: die der Mutter, der elfjährigen Tochter Gvantsa und des achtjährigen Sohnes Gega, der an tuberöser Sklerose leidet. Einer seltenen Erbkrankheit, die Fehlbildungen und Tumore, kognitive Behinderungen und epileptische Anfälle verursacht. „Wir hatten nur wenig Zeit, unsere Sachen zu packen“, erzählt Khotchava. Das Handy wurde ihr abgenommen, ein Arzt stieß noch dazu, der den Jungen untersuchte und Medikamente mitgab. Wenig später saßen die drei in einem Flugzeug nach Tiflis.
Dass Abschiebungen unangekündigt und über Nacht, in Hektik und für die Betroffenen nur schwer zu ertragen, verlaufen, liegt in der Natur dieses Procederes, das keiner Seite behagt. Was Ilona Khotchava aber in Depression und Finsternis stieß, ist darüber hinaus etwas anderes: Zum Zeitpunkt der Abschiebung hatten die deutschen Sozialbehörden Therapien und eine Operation für den schwerkranken Gega bereits genehmigt. Dazu wird es nun nicht mehr kommen. Und der Junge womöglich an seinem Leiden sterben.
Entsprechend groß ist der Schock nicht nur bei der Mutter, sondern auch in ihrem Umfeld in Deutschland. „Es ist unfassbar, dass eine Frau mit einem so schwerstkranken Jungen abgeschoben wird“, sagt Doris Heine vom Arbeitskreis Asyl in Ravensburg und Weingarten, die sich der Familie annimmt. „Frau Khotchava ist eine junge Mutter, die verantwortungsvoll und ohne Wenn und Aber zu ihrem Sohn steht“, berichtet Heine. Auch die Schwester unterstütze ihren Bruder und die Mutter. „Ein sehr guter Zusammenhalt“, sagt Heine. „In Georgien erlebt sie nun das Gegenteil.“
Khotchava lebt in einem Dorf in Westgeorgien auf dem Hof ihres Mannes und der Schwiegereltern. Der alkoholsüchtige Vater ihrer Kinder sei andere Beziehungen eingegangen, der Schwiegervater reagiere feindselig. „Das Umfeld ist beengt, arm und gewalttätig“, sagt Heine, die betont: „Ich weiß, man kann nicht die ganze Welt retten. Aber aus humanitären Gründen sollte man den dreien einen Aufenthalt in Deutschland ermöglichen.“Vor allem wegen des Jungen. „Er musste viel Leid ertragen in seinem Leben. Aufgrund der Abschiebung wird ihm unsäglich mehr Leid auferlegt.“
Ilona Khotchava war mit Gega bereits früher in Deutschland, 2014 wurde ihrem Sohn in Freiburg ein Stirnlappen entfernt, danach kehrte sie nach Georgien zurück. 2019 reiste sie mit Tochter und Sohn erneut nach Süddeutschland und stellte einen Asylantrag. Dieser wurde Ende Februar 2020 abgelehnt, weil Georgien als sicheres Herkunftsland gilt und weil dort, so laut Anwältin die Begründung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe, eine medizinische Grundversorgung gegeben sei. Seither lebte das Trio im Status der Duldung und mühte sich um ein lebenswertes Leben. Tochter Gvantsa durfte in Markdorf eine Regelschule besuchen, Gega erhielt in Friedrichshafen einen Platz in der Schule am See der KBZO-Stiftung, samt Förderung und Versorgung. Das tat dem Jungen gut. Vor allem aber: Nach einer ersten Ablehnung genehmigte die Sozialbehörde die dringende und lebenserhaltende Operation für den Achtjährigen sowie weitere Spezialtherapien. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Ilona Khotchava, die nach Georgien
abgeschoben wurde
Dass die Behandlung durch die Abschiebung verhindert wurde, entsetzt auch die Verantwortlichen an der KBZO-Schule am See. Man sei „erschüttert und traurig“, heißt es in einem Schreiben der Schulleitung, dies seien „unmenschliche Methoden“. Und auch die Beauftragte für Belange von Menschen mit Behinderungen am Landratsamt Bodenseekreis erklärt in einem Brief an Doris Heine: „Wir stimmen absolut mit Ihnen überein, dass die Abschiebung der Familie nach Georgien in der geschilderten Situation eine besondere Härte darstellt und eigentlich hätte vermieden werden müssen.“Wieso aber wurde sie dann vollzogen?
Fest steht, dass die Entscheidung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) liegt, das Regierungspräsidium in Karlsruhe führt aus, die Ausländerbehörde im Landratsamt erhält eine Mitteilung. „Offenbar sind Informationen auf der Strecke geblieben und man wollte vollendete Tatsachen schaffen“, sagt Anwältin Christina Schmauch, die Khotchava vertritt. Schmauch sieht aber auch ein juristisches Versäumnis. Die Behörden hätten vor einer Abschiebung die Entscheidung über eine mögliche Berufung abwarten müssen. „Deshalb hoffe ich, dass die Familie zurück nach Deutschland darf.“
Bodenseekreis-Landrat Lothar Wölfle sieht dafür allerdings keine Grundlage. Der CDUPolitiker geht in einem Schreiben an den Asylkreis aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes zwar nicht im Detail auf die Familie ein, stellt jedoch fest: „Über eines sollten wir aber nicht diskutieren müssen, nämlich dass Behörden und Gerichte geltendes Recht anwenden. Gott sei Dank!“Alles andere wäre in einem funktionierenden Rechtsstaat Willkür. Und in dem geschilderten Fall könne er „nicht erkennen, dass etwas nicht korrekt gelaufen wäre“.
Ob korrekt oder nicht, ungewöhnlich ist der Vorgang auf alle Fälle nicht, meint Sebastian Ludwig, Referent für Flüchtlingsarbeit und Asylpolitik beim Bundesverband der Diakonie in Berlin. „Das ist ein humanitär tragischer Fall“, sagt Ludwig der „Schwäbischen Zeitung“, „aber diese Situationen gibt es oft.“Grundsätzlich ließe sich eine Abschiebung aus medizinischen Gründen zwar verhindern, die Hürden dafür seien aber sehr hoch. „Es gibt sehr viele Länder, in denen die Menschen nicht die medizinische Versorgung erhalten, die sie hier bekommen könnten“, sagt Ludwig. „Da ist es nachvollziehbar, wenn die Politik eine Grenze zieht.“Weil wir nicht die ganze Welt retten können?
„Nun, es kommt ja nicht die ganze Welt zu uns“, schränkt der Experte ein. „Die Frage ist, ob wir als viertgrößte Wirtschaftsnation jenen Leuten, die dann zu uns kommen und dringende Hilfe benötigen, nicht auch helfen können.
Aus Sicht der Diakonie sollte in einem solchen Fall die Not im Vordergrund stehen und geholfen werden.“Bei Ilona Khotchava wurde diese Frage seitens der Behörden jedoch mit Nein beantwortet.
„Mir wurde alle Hoffnung genommen“, sagt die Mutter am Telefon. Als Gega kürzlich einen epileptischen Anfall erlitt, musste sie 40 Minuten auf den Krankenwagen warten. Der Schwiegervater sagt, das Kind sei eine Schande und müsse weg. Aber wohin?
„Mir wurde alle Hoffnung genommen.“