Schwäbische Zeitung (Biberach)
Russlands Staatsmacht schlägt zurück
Verhafteten Demonstranten drohen nach Ansicht von Bürgerrechtlern drakonische Strafen
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MOSKAU - Nach den Nawalny-Protesten am Samstag schlägt die russische Staatsmacht mit Rekordhärte zurück. Auch dem inhaftierten Oppositionspolitiker droht ein neues Verfahren.
In Krasnodar kletterte einer der Demonstranten auf den Sockel des Kosaken-Denkmals vor dem Gouverneurspalast und entblößte sein Hinterteil. Hinterher wurde Wladimir Jegorow festgenommen, entschuldigte sie reumütig für diese „große Dummheit“. Die Kriminalpolizei eröffnete trotzdem ein Strafverfahren wegen „Rowdytums aus Hass“.
Die Staatsmacht schlug schon während der allrussischen Proteste für Alexei Nawalny am Samstag mit Rekordhärte zurück. Allein in Moskau mussten sich 38 Menschen mit Kopfverletzungen oder Knochenbrüchen in ärztliche Behandlung begeben. In der Hauptstadt nahm die Polizei mehr als 1450 Menschen fest, in ganz Russland über 3700. Es hagelte Hunderte Ordnungsstrafen, Arreste oder Geldbußen wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht. Bis gestern Nachmittag eröffneten die Fahndungsbehörden mindestens 16 Strafverfahren.
Schon bezeichnen Moskauer Medien die bevorstehenden Gerichtsverhandlungen als „Schnee-Prozesse“, auch wegen der Schneebälle, mit denen die Sicherheitskräfte vielerorts beworfen wurden.
Die Sicherheitsorgane fahnden unter anderem nach „aggressiv gestimmten Bürgern“, die in Moskau zwei Polizisten zusammengeschlagen haben sollen. Und nach einem Autofahrer, der angeblich versuchte, einen Ordnungshüter zu überfahren.
Nach Ansicht liberaler Beobachter können zu den Tätern aber auch
Provokateure der Sicherheitsorgane gehören. Der Kanal TV Doschd veröffentlichte ein Video, das zeigt, wie athletisch aussehende Männer in Zivil kurz vor der Kundgebung am Moskauer Puschkin-Platz aus einem Polizeibus in einen anderen dort parkenden Bus mit verklebten Fensterscheiben kletterten.
„Die Staatsmacht handelt außerhalb jedes juristischen Rahmens“, sagte der Bürgerrechtler Mark Fejgin, früher Strafverteidiger der Protestgruppe Pussy Riot, der „Schwäbischen Zeitung“. „Ihr drakonisches Demonstrationsrecht verstößt selbst gegen die in der Verfassung verankerte Versammlungsfreiheit.“Ohne die staatlichen Rechtswidrigkeiten gäbe es kaum Anlass für Festnahmen oder Strafverfahren, auch weil die Demonstranten nicht gezwungen wären, sich gegen illegale Polizeigewalt zu verteidigen. Auch Covid-19 wird bemüht. Das russische Ermittlungskomitee eröffnete ein Strafverfahren wegen Verstoßes gegen seuchen-sanitäre Regeln.
„Nawalny selbst ist zur Geisel geworden“, sagt Fejgin. „Auch ihm droht eine neue Anklage wegen Aufrufs zu den Kundgebungen.“Der verhaftete Nawalny hatte vergangenen Montag als Erster seine russischen Mitbürger über die Handykamera seines Anwalts aufgefordert, am Samstag auf die Straße zu gehen. „Nicht für mich, sondern für sich und die eigene Zukunft.“In den folgenden Tagen wurden mehrere seiner Aktivisten wegen solcher Appelle festgenommen.
Laut Fejgin müssen die Angeklagten der bevorstehenden „SchneeProzesse“kapitale Haftstrafen befürchten. Wer sich etwa wegen Gewalt gegen Vertreter der Staatsgewalt zu verantworten hat, kann bis zu zehn Jahren hinter Gittern landen.