Schwäbische Zeitung (Biberach)
Stimmen aus der Praxis
Manchmal kommt es mir wie mittelalterlicher Ablasshandel vor: Wir bezahlen dafür, dass bloß kein Geflüchteter deutschen Boden erreicht. Das Ergebnis: Zelte ohne Boden, ohne Decken, ohne Strom und Wasser – unvorstellbare Zustände für gestrandete Flüchtlinge auf der Balkanroute oder in den Lagern rund um Europa und oft der Tod im Mittelmeer. Das Ziel: Abschottung und Abschreckung. Manche Parteien sagen: Wir können nicht jedem helfen. Aber inzwischen haben sich 218 Kommunen für die zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklärt – sie wissen am besten, was sie in Fragen der Integration leisten können. Der Innenminister blockiert. Deshalb wollen zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, dass das Land Baden-Württemberg „Sicherer Hafen“wird und ein Landesaufnahmeprogramm, mit dem eine „Koalition der Willigen“selbst entscheiden kann, was möglich ist. Baden-Württemberg findet sich an der Spitze von Abschiebungen – ich wünsche es mir an der Spitze einer humanen Flüchtlingspolitik.
Dagmar Rüdenburg, Vorsitzende des Interkulturellen Forums für Flüchtlingsarbeit in Biberach
Der Weisse Ring berät und betreut Opfer von Straftaten. Dies sind vorwiegend Tötungsdelikte, Vergewaltigungen, Raubüberfälle, sexueller Missbrauch von Kindern, häusliche Gewalt und Stalking. Viele Opfer und ihre Angehörigen sind durch die schweren Straftaten massiv belastet und traumatisiert. Für sie wäre es außerordentlich wichtig, zeitnah in posttraumatische Behandlung zu kommen. Dazu benötigen wir dringlich flächendeckend Traumaambulanzen. Ebenso benötigen wir flächendeckend Gewaltambulanzen, in denen Opfer, die sich zunächst nicht für eine Strafanzeige entscheiden, anonym und fachgerecht Spuren und Beweismittel sichern lassen können. Damit können wichtige Grundlagen für spätere StrafSozialoder Zivilverfahren geschaffen werden. Opfer von jahrelang zurückliegendem sexuellem Missbrauch haben es oft schwer, staatliche Leistungen zu bekommen. Es wäre dringend erforderlich, die hohen Beweisanforderungen opferorientierter zu gestalten. Trotz großer Anstrengungen in der Vergangenheit müssen die Opfer in allen Prozessen und Verfahren noch mehr beachtet werden.
Josef Hiller, Weisser Ring, Leiter der
Außenstelle Ravensburg
D●
ie Konzertszene des militanten Neonaziuntergrunds boomt – auch im Südwesten. Wenn etwa Süddeutschlands größte rechtsradikale Skinheadkameradschaft einlädt, reisen bis zu 250 Gäste international an. So überrascht „Voice of Anger“Ende 2017 Polizei und Ordnungsbehörden im beschaulichen Oberschwaben. Auf einem frisch erworbenen Gehöft bei Bad Wurzach feiern sie nahezu unbehelligt ihr 15. Jubiläum. Wenige Monate später zeigen sich die Behörden angesichts eines Konzertes bei Aichstetten, das die Neonazis nach einem Verbot in Bayern kurzerhand über die Landesgrenze verlegen, ebenso handlungsunfähig. Ein unangenehm gewohntes Bild, das sich auch etwa 2019 in Bitz auf der Zollernalb zeigt. Es fehlt an Problembewusstsein und Rückendeckung. Die Landesregierung müsste Behörden und Zivilgesellschaft den Rücken stärken und deutlich machen: Die Konzerte sind nicht als vermeintlich harmlose Feiern, sondern zentrales Element einer mörderisch-menschenverachtenden Szene zu behandeln, ohne die etwa der NSU so nicht denkbar gewesen wäre.
Sebastian Lipp, Journalist und Chefredakteur bei www.allgaeu-rechtsaussen.de